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  Aurobindo und die Mutter in Pondicherry
Die Wende zur Mutter in Aurobindos Philosophie
Ich hätte zu gerne noch einmal den Ashram Aurobindos in Pondicherry besucht, nicht nur weil ich um die beinah grenzenlose Bewunderung weiss, die das gebildete Indien ihm und seiner Begleiterin auf seinen Entdeckungsreisen ins Innere und "Übermenschliche", seiner sog. "Mother", "Mutter", immer noch entgegenbringt. Aurobindo ist - wenn ich die Allgegenwart seines Namens in den Gesprächen um modernes spirituelles Leben richtig deute - im Bewusstsein des gebildeten Indiens neben Gandhi und Tagore immer noch der Meister und der Denker des 20. Jahrhunderts. Irgendwo aber hatte doch seine Transformation ins Übermenschliche, dieser sog. Yoga, dieses sich Verbinden mit dem Übergeist eine - wie mir immer schien - überraschend neue Richtung eingeschlagen. Drehte sich zuerst alles um diese Verwandlung ins Übermenschliche, so hatte dieses Übermenschliche, dieses Göttliche, dieses für die ganze Menschheit grenzenlos Verheissungsvolle und Zukünftige einen Namen. Es hiess Mira, war Französin, Halbjüdin, und wurde the Mother, "die Mutter" genannt. Der Weg nach innen führte nun zu ihr. Die Transformation ins höhere Bewusstsein verwandelte sich in grenzenlose Liebe zur Mutter. Weshalb diese Wechsel aus der Sphäre der philosophischen Konzepte in die Sphäre kindlicher Gefühle? Aurobindo selber hatte diese Wende initiiert und sie wahrscheinlich als konsequente Fortsetzung seines bisherigen Weges verstanden. Dem Freund durchsichtiger philosophischer Konzepte muss dieser Wechsel wie ein Verrat des Philosophen an seiner Philosophie erscheinen, oder doch wie ein Rückfall des vordem klaren Geistes auf die Ebene kindlicher Empfindungen. Wenn aber Aurobindo selber - man verzeihe den derben Ausdruck - immer "mutterhöriger" wurde: Können wir es seinen geistigen Kindern und Enkelkindern bis hin zu den Idealisten von Auroville verargen, dass sie ihrem Meister nachbeten und nachempfinden und dass für sie niemand und nichts in dieser Welt so viel gilt wie die Mutter, ihr Wille, ihre auch nach ihrem Tod überall erlebte Gegenwart und ihr Wort? Diese Wende zur Mutter in der Mystik Aurobindos hätte ich gerne verstanden. Vielleicht, dass der Ashram in Pondicherry und ein weiterer Besuch in Auroville dazu beitragen konnte, diese Wende zu verstehen.
Wartende Menschenschlangen
Was bedeutet diese lange Kolonne wartender Menschen auf dem Trottoir im nördlichen Teil der Meer-Promenade? Aus einer Seitenstrasse heraus stauen sich die Menschenscharen und reichen nun bis ans Meer. Unüberschaubar lange ist die wartende Schlage und ständig stossen neue Menschengruppen zu den bereits schon Dastehenden. Mein Fahrer vermutet - es ist schliesslich Sonntagmorgen - dass diese Scharen um Eintritt in eine Kirche bitten. Aber mir schwant Übles. Ist dies nicht genau das Quartier, in dem sich auch der Aurobindoashram befindet, in das hinein die endlose Schlagen der Wartenden weist? Unsere Fahrt zum Ashram bestätigt meine schlimmsten Befürchtungen. Zwei Warteschlangen mit Tausenden von Menschen stehen vor dem Ashram an und suchen - die eine Schlange durch den Haupteinangang, die andere durch einen Nebeneingang - für kurze Minuten oder vielleicht auch nur für Sekunden zum Grabmal Aurobindos und seiner Gefährtin zugelassen zu werden. Heute ist - warum habe ich nicht daran gedacht! - der Geburtstag der Mutter. Von weither sind diese Wartenden angereist, alle in ihr schönstes Kleid gehüllt, und viele mit einer Lotusblume in der Hand, die sie heute der Mutter aufs Grab legen möchten. Mein Fahrer fragt mich augenzwinkernd, ob ich immer noch Lust hätte, das Grabmal Aurobindos zu besuchen. Er kennt die europäische Ungeduld. Und er kennt auch mich. Ich sehe mich nicht stundenlang in praller Sonne warten - nur auf den letzten hundert Metern stehen die Wartenden durch einen improvisierten Baldachin geschützt im Schatten. Denn ich kenne das Ende dieser frommen indischen Warteübungen. Wenn du nach Stunden dein Ziel erreicht hast, hetzen dich die Aufseher im Schnellzugstempo durch die heilige Stätte. Du opferst Stunden für Sekunden. Ich verzichte auf einen Besuch des Grabmals und suche auf anderem Weg, auf meine Fragen Antwort zu finden.
Aurobindo über die Mutter
In einem Buchladen mit vielen Titeln zu allen Bereichen indischer Spiritualität und Kultur fällt mir ein Buch auf, das ich noch nicht besitze: In diesem Band werden alle erreichbaren Aussagen und schriftlichen Bemerkungen Aurobindos zum Thema "Mutter" auf 495 Seiten aneinander gereiht. Wahrscheinlich schenkt mir dieses Werk mehr Einsicht als jede Sekunde oder jede Minute, die ich vor dem Grabmal Aurobindos und der Mutter zugebracht hätte. Denn wer könnte mir die Faszination und das Geheimnis der Mutter besser erläutern, als der Mensch, der ihr am nächsten stand? Wenn einer die Faszination der Mutter mir deuten kann, dann er, ihr kongenialer Freund. Ich erstehe mir das Buch, sezte mich in ein vegetarisches Restaurant, beginne zu lesen und wandere von Aurobindo geführt in eine Welt, die den Tausenden wartender Inderinnen und Inder wahrscheinlich bestens vertraut ist, die mich als Westler aber immer wieder von neuem herausfordert und irritiert.
Totale Übergabe
Totale Übergabe fordert Aurobindo von jedem Menschen, der sich der Mutter und ihrer göttlichen Kraft zuwendet. Die Begegung zwischen dem Menschlichen und dem Göttlichen kann nur gelingen, wenn der Mensch sich zum Göttlichen erhebt mit unbedingtem Ernst und grenzenloser Hingabe. Dann wird sich die göttliche Gnade von oben her auf ihn herniederlassen und sich ihm zuwenden (Sri Aurobindo, The Mother, 1972, s. 1). In der Gestalt der Mutter ist diese göttliche Gnade unter uns Menschen präsent. Deshalb opfert der ernsthafte Wanderer auf spirituellem Pfad dieser Mutter alles, Im Aufstieg des Menschen zu Gott sind uns keine Kompromisse oder Zweifel erlaubt. Keine Reserve wird uns zugestanden, kein Vorbehalt. Es gilt, unermüdlich das Höhere anzustreben, unerbittlich Regungen der niederen Natur von sich zu weisen und sein ganzes Sein ohne Vorbehalt dem Göttlichen und seiner Shakti, seiner weiblichen Dynamik, auszuliefern (s. 6ff). Wohin führt diese Übergabe? Was wird aus dem Menschen, der alles der göttlichen Mutter übergibt, seine Gedanken, seine Empfindugen, seine Wünsche, seinen Willen? Er fühlt sich nicht mehr als ein von der Mutter getrenntes Wesen. Er wird völlig eins mit ihr. Sie denkt und handelt in ihm (s. 17). Er wird - so empfinde ich Aurobindos entsprechende Aussagen - zu einer Marionette in ihrer Hand: "All deine Bewegungen haben ihren Ursprung in ihr, all deine Kräfte sind ihre (Kräfte). Geist, Leben und Körper sind bewusst und freudvoll Insrumente für ihre Handlungen, Mittel in ihrem Spiel" (s. 16). Sein ganzes Leben wird zu einem Opfer an sie (s. 15). Aber weshalb sollte er sich ihr nicht bedingungslos hingeben? Sie ist kein gewöhnlicher Mensch. Sie ist in den Augen Aurobindos vielleicht nicht einmal ein wirklicher Mensch. (Es fällt mir schwer, die entsprechenden Loblieder Aurobindos auf die Mutter in klare Konzepte zu giessen.) Offenkundig ist sie für Aurobindo weniger ein menschliches Wesen, das sich dem Göttlichen zuwendet und sich dadurch ins Übermenschliche oder Göttliche erhebt, sondern ein göttliches Wesen, "schon als Kind innerlich über dem Menschlichen" lebend (s. 48), das sich den Menschen zuwendet und als Mensch unter ihnen erscheint. Als grundsätzlich göttliches Wesen ist sie überall präsent (s. 117), vor allem auch in unserem eigenen Herzen: "Ouvre ton coeur et tu me trouveras déjà là" (s. 115). Wenn wir uns bedingungslos ihr übergeben, kann sie ungehindert ihr Werk in uns verrichten und wir erleben sie in jeder Faser und jeder Zelle unseres Leibes (s. 37). Als rechte Kinder und Diener unserer göttlichen Mutter fangen wir an, von ihr zu träumen, und wo immer wir sind sie zu spüren, sie zu erleben, ihr nahe zu sein. Oder noch inniger: Wir fühlen sie ständig in uns (s. 176). Im Wissen, das alles, was wir sind und haben, ihr gehört, gehen wir auch anders mit unseren Vermögenswerten um. All unser Geld und Besitz gehört ihr. Wenn wir unseren ganzen Besitz ihr zu Füssen legen, gibt sie uns, was wir brauchen, wieder zurück. Dankbar empfangen wir dieses Notwendige aus ihren Händen (s. 12f.).
Die Mutter als Abgrund
Ich breche an dieser Stelle meine Lektüre ab. Das ist nicht mehr luzide Philosophie oder abgeklärte Mystik, was Aurobindo hier über die Mutter schreibt. Das ist auch nicht mehr Yoga, wenn Yoga der Versuch des Geistes ist, sich selbst so lange einen Spiegel vor Augen zuhalten, bis der Geist sich selbst durchschaut. Diese Mutter ist - so empfinde ich bei erster Durchsicht Aurobindos Erläuterungen - für Aurobindo ein Abgrund, der alles verschlingt, ein Wirbel, der Aurboindos ganzes Sein und Denken ergreift und in sich hineinreisst, gnadenlos und restlos, bis nichts mehr bleibt, kein Aurobindo mehr und keine Welt, kein eigener Gedanke mehr und wahrscheinlich auch kein einziges Empfinden, bis die ganze Wirklichkeit nur noch ein einziges ist: Mutter, Mutter, Mutter. Ich weiss, dass die Tausende von Menschen draussen in den Warteschlangen anders von der Mutter denken und mit anderem Empfinden ihre drei Sekunden vor dem weissen Grabmal verbingen werden. Sie werden ihre Lotusblume nicht in einen alles verzehrenden Abgrund werfen, sondern der göttlichen Kraft und Harmonie übergeben , jenem Überbewusstsein oder jenem Superselbst, zu dem Aurobindo und seine Gefährtin nach der Überzeugung der Wartenden erwacht sind. Aber mich befallen im ventilatorgekühlten vegetarischen Restaurant diese vor mir liegenden Gedanken mit der Wucht der unverhüllten Masslosigkeit. "Meden agan", empfahlen die griechischen Philosophen, "nichts zu sehr". Alles ohne Mass, scheint mir Aurobindo auf jeder Seite des neuerstandenen Buches zuzurufen. Sind das noch Gedanken, die Aurobindo hier vorlegt? Gedanken greifen nie ins Uferlose. Sie sagen nie alles, sie respektieren Grenzen, wenn wir wirklich denkend zu ihnen fanden und nicht bloss in einem Anfall leidenschaftlicher Intuitition. Sie achten das Unsagbare und verirren sich nie ins Alles und Nichts. All diese Grundregeln für vernünftiges Denken scheint Aurobindo in seinen Bekenntnissen zur Mutter über Bord zu werfen. Hier gilt nichts mehr, was vorher galt. Hier sehe ich fürs Erste kein Hier und kein Dort mehr. Hier sehe ich nur noch die alles umgreifende und alles umfassende Mutter und erlebe mich selbst als ein demnächst von der Mutter verschlungenes Nichts.
Ein Sektenspiel?
Vom ventilatorgekühlten Restaurant aus betrachtet tönt vieles, was Aurobindo über die Mutter sagt, sektenhaft. Was für eine totale Auflösung unseres ganzen Wesens! Und was für ein Allmachtsspiel, das diese göttliche Mutter dann mit uns betreiben könnte, wenn es ihr danach zumute ist! Die Mutter könnte ihre postulierte Allmacht an uns bedingungslos willigen Dienern bis in die absurdesten Konsequenzen hinein erproben. Aurobindos Bedeutung für die Philosophie und Mystik des modernen Indien ist unbestritten, Kaum einer hat wie er alte indische Mystik mit modernem Fortschrittsdenken und westlicher Weltnähe verbunden. Aber was hat Aurobindo in dieser Mira, in dieser offenbar paranormal talentierten Halbfranzösin und Halbjüdin erlebt, dass er nicht nur in eine grenzenlose, in eine offenkundig totalitäre masslose Muttermystik hineingleitet, dass er diese Mutterverehrung darüber hinaus noch als den Weg der göttlichen Gnade, als den Aufstieg zum höheren Bewusstsein feiert? Wie kann ein Kopf wie Aurobindo den Aufstieg ins Übermenschliche kommentarlos mit dem Absturz ins Untermenschliche, mit der Auflösung all dessen , was Ich und Verantwortung und Individualität heisst, verbinden? Irgendwo muss sich eine Schlüssel finden, der mir das Tor zu diesem bizarren Geheimnis öffnet. Diesen Schlüssel müsste ich finden - in Pondicherry, in Auroville, in Büchern, in Gesprächen.
Aufstieg ins Göttliche
In Auroville, vor dem seltsamsten "Tempel" unserer Zeit, vor dem eine aufgehende Blüte symbolisierenden Matrimandir ("Tempel der Mutter"), füge ich mich ins Unvermeidliche und stehe in Warteschlangen - es sind hier nur Hunderte, nicht Tausende - an, um mich durchs Allerheiligste, in die "Kammer" im obersten Teil der zentralen Kugel im Tempelbau schleusen zu lassen. In Einerkolonne durchwandern wir den den Matrimandir umgebenden Grüngürtel - Gärten sollen später hier entstehen -, in Einerkolonne werden die Schuhe vor dem Tempel deponiert, in Einerkolonne geht's neben einer ganzen Reihe von schweigend dastehenden Aurovillianern an den "Blütenblättern" vorbei, die die zentrale Kugel umgeben, hinein in die seltsam gestaltete untere Hälfte der riesigen Kugel. Diese untere Kugelhälfte ist zum Teil erst im Rohbau erstellt. Manche Betonmauern warten noch auf die weisse Marmorverschalung. Immerhin - die eine der beiden Rampen, die im grossen Schwung hinauf in die "Kammer" führen, ist schon begehbar. Schweigend und völlig eingebunden in die endlose Einerkolonne erleben wir diesen Aufstieg ins Eigentliche und damit den ersten und grundlegenden Teil in Aurobindos Mystik. Wir müssen uns zu Gott, zum göttlichen Bewusstsein, zum Übergeist erheben, in rastlosem Aufstieg gilt es, niedere Ebenen in unserem Geist und unserer Welt hinter uns zurückzulassen. Aber wenn wir so ernsthaft aufsteigen, dann steigt das Göttliche zu uns hernieder. Dann verbinden sich unsere Ernsthaftigkeit und die göttliche Gnade zur grossen Transformation.
Herabkunft ins Menschliche
Dieses Ereignis der Gnade, dieses Herbkommen des göttlichen Lichts zu uns Menschen wird in der sog. Kammer gefeiert. Wie nicht anders zu erwarten war, wurde die Besucherkolonne, in die ich eingebunden war, im Schnellzugstempo in diese Kammer hinein- und wieder herausgeführt. Immerhin konnte ich während der fünf Sekunden, in denen mir Einblick in die Kammer gewährt wurde, die weiss ausgekleidete Kuppel der Kammer, die in der Mitte des Raumes aufgestellte grosse Kristallkugel - von einem deutschen Optikunternehmen hergestellt - und den Sonnenstrahl erkennen, den durch Uhren speziell gesteuerte Spiegel auf der Spitze des Kuppeldaches auffangen und durch ein Fenster zuoberst im Kuppeldach senkrecht in die Kugel hinabwerfen. Die zentrale Kristallkugel wird - solange die Sonne am Himmel steht - ständig von einem Sonnenstrahl ausgeleuchtet. Selbstverständlich ist diese Kammer kein Raum für gemeinsame Feiern oder Meditationen. Der einzelne Mensch soll hier erleben, was mit ihm geschieht, wenn er den Aufstieg ins Göttliche wagt. Allerdings müsste man uns, wollten wir diese Spiegel-Kugel-und-Sonnenlichtsymbolik verinnerlichen, mehr als fünf Sekunden Aufenthalt in der Kammer zugestehen. Man hatte mir am Billetschalter versprochen, ich könnte vor der Kugel in der Kammer "meditieren". Wahrscheinlich denken der Kassierer und ich an zwei völlig verschiedene Dinge, wenn wir von Meditation sprechen.
 

Ich kaufe mir zwei Bücher mit Bildern zur Baugeschichte und zur Symbolik des Matrimandirs. Und in der Tat: Beim Druchblättern findet sich eine erste Antwort auf die Frage nach der Wende der Aurobindo-Mystik hin zum Mutterkult. Was sich uns in der Kammer zeigt, meint zwar das Höchste und Letzte, das Beste, das Wunderbarste, was dem menschlichen Geist zustossen kann. Der Übergeist berührt und erfüllt ihn. Die göttliche Wirklichkeit leuchtet ihn aus. Aber wirkt dieses mystische Spiel mit Spiegeln, Sonnenlicht und Glaskugeln in einem völlig mit weissem Marmor und weissem Teppich ausgekleideten Raum nicht reichlich abstrakt, inhaltlos, leer? Ist dieses Letzte und Höchste, diese Erleuchtung, dieses Erfülltwerden unseres Geistes mit dem Übergeist überhaupt noch ein Ereignis, das ich mir vorstellen und deshalb auch wünschen kann? Oder gleicht dieses Ereignis nicht der Null in der Zahlenreihe oder dem reinen Weiss in der Farbskala? Die reine Klarheit und Leere dieser Vereinigung des Menschen mit Gott, dieses Nirvana in der Auroville-Variante, schreit doch geradezu nach persönlicher Ergänzung, nach einem menschlich-übermenschlichen Gesicht, das mir entgegenlächelt, nach einem Gott, der Mensch wird, der mich anschaut, mich führt und mich liebt. Wahrscheinlich hat die abstrakte Leerheit dieser Erleuchtungskonzepte in Aurobindo und in seiner Jüngergemeinde einen derartigen Hunger nach einer persönlichen Gottheit und nach menschlicher Wärme geweckt, dass die Mutter auch dann zur göttlichen Mutter des Ashrams und Aurovilles geworden wäre, wenn sie mehr Bedenken gezeigt hätte, diese Rolle des inkarnierten göttlichen Übergeistes zu übernehmen. Auf solche Bedenken scheinen sie nie umgetrieben zu haben. Sie war, was Aurobindo und sein Ashram dringend brauchte, charmant und einfühlsam, würdig und mit praktischem Verstand göttliche Mutter für eine stets wachsende Gemeinschaft.

Der Preis religiöser Intimität
Warum aber schwankt das Denken und Erleben Aurobindos derart zwischen der Klarheit des Absoluten und der Bindung an den konkreten göttlichen Menschen hin und her? Vielleicht können wir Menschen uns dem Absoluten nur nähern, wenn wir ihm zugestehen, dass es unsere Empfindungen zerzaust und unsere Vorstellungen zerbricht. Aurobindo brach auf, um ins Vollkommene und Absolute zu finden. Wenn er es fand, oder wenn das Absolute zu ihm fand, dann kann sein Denken und Reden übers Absolute nur disparat, nur in sich zerrissen wirken. Intimität mit Gott, unmittelbares Gott-Begegnen zerbricht unser Denken und Empfinden. Das Absolute ist reine Glaskugel, von Sonnenlicht durchleuchtet. Und das Absolute ist Mutter Mira, die uns auf zahllosen Postern entgegenlächelt. Der Preis der mystischen Intimität ist die Gegensätzlichkeit der Vorstellungen und der Empfindungen. In der Intimität mit Gott verlieren wir alle klaren Konzepte.
Georg Schmid, 1999
Letzte Aenderung 1999, © gs 1999, Infostelle 2000
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