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  Beaulieu-Bewegung
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  Die Beaulieu-Bewegung
Inhalt
1. Einleitung
Im September 1992 las ich in der Zeitschrift "Neue Wege"1 einen kurzen Artikel mit dem Titel: "Aufbruch im Maderanertal". Darin weist der Autor, Hans Steiger, auf ein Buch "Aufbruch von innen. Manifest für eine Ethik der Zukunft"2. Der Untertitel liess mich aufhorchen. Ich kaufte mir das Bändchen und las es in einem Zug durch. Herausgegeben worden war es 1991 von der Beaulieu-Gruppe, hinter der eine "ökospirituelle Bewegung" mit dem gleichen Namen steht. Ökologische Antworten auf heutige Problene - darunter konnte ich mir etwas vorstellen. Ich dachte an Organisationen wie WWF oder Greenpeace -weniger klar war mir, was eine spirituelle Bewegung sei. Mit den Wort "ökospirituell" konnte ich praktisch nichts anfangen. Nach der ersten Lektüre des Bändchens legte ich es auf die Seite, überzeugt, bald wieder der Beaulieu-Bewegung zu begegnen. Wo ich aber auch nachfragte, bei Leuten, die sich mit Ökologie, Wirtschaft oder Drittweltfragen beschäftigen, nienandem war Beaulieu ein Begriff.

Ganz überraschend stiess ich in der Zeitschrift "Schweizer Illustrierte" wieder darauf. Dort wurde vom "Berghotel Maderanertal" im Kanton Uri berichtet, das Leute aus Basel, die der Beaulieubewegung nahestehen, übernommen haben. Vor hundert Jahren ist dieses Hotel für reiche Bergfreunde aus aller Welt errichtet worden. Mit zum Gebäudekomplex gehörte ein Ballsaal, eine Kapelle, eine Hausbäckerei und eine Parkanlage mit See und Ruderboot. Man konnte sich damals von über 60 Angestellten verwöhnen lassen. Heute ist der grösste Teil des Häuserkomplexes am Verfallen; das Haupthaus wurde teilweise renoviert und ist für Gäste wieder geöffnet. In Juni 1994 besuchte ich das Hotel, ein faszinierendes Haus in einem wunderbaren Bergtal gelegen. Das Nachtessen war vegetarisch und wurde liebevoll serviert. Am Buffet konnte man sich bedienen mit Prospekten der verschiedensten Seminare, die zum Teil in diesem "Haus am Ende der Welt" durchgeführt werden. Themen für diese Kurse sind etwa: Edelsteinmeditation, Ökospirituelles Bewusstsein, Fasten-Trekking-Meditation usw. Dem Geheimnis Beaulieu kam ich an diesen Wochenende nicht auf die Spur. Kurz darauf war das Berghotel Maderanertal in der Zeitung zum Verkauf ausgeschrieben.

Im Sonner 1994 nahm ich am Esoterik- Seminar bei Prof. Georg Schmid in Zürich teil. Verschiedene Menschen legten ihren persönlichen Weg dar, in der heutigen Zeit ein sinnerfülltes Leben zu führen. Dieser Weg führt fast ausschliesslich nach innen, es schien mir ein Weg der Weltabkehr, bei dem es um das Wohl des Einzelnen geht, ein Rückzug in den esoterischen "Elfenbeinturm". Damit wird aber nur ein Teil unserer Aufgabe als Menschen heute aufgezeigt. Aus dem wenigen, das ich bis jetzt von Beaulieu wusste, war mir in Erinnerung, dass diese Bewegung versucht, den Weg nach innen mit verantwortlichem Handeln in der Welt zu verbinden und so zu einem Wechselspiel zu kommen zwischen äusseren politischen Aktionen und dem inneren spirituellen Wachstum. In den Grundsätzen heisst es: "Geistige Suche -der Weg nach innen und Engagement in der Welt - der Weg nach aussen - sollen eng verbunden werden." So kam mir der Gedanke, mich in Rahmen einer Seminararbeit mit der Beaulieu-Idee auseinanderzusetzen.

In einem ersten Teil der Arbeit versuche ich das Gedankengut der Beaulieu - Bewegung, wie es vor allem im Buch "Aufbruch von innen" formuliert ist, darzustellen. Darin wird immer wieder auf Denker hingewiesen, die die Beaulieu-Bewegung beeinflusst haben. Wichtige Anstösse vermittelte der Theologe Eugen Drewermann. Sein Buch "Der tödliche Fortschritt"3 habe ich für meine Arbeit als Grundlage verwendet. Die Autoren des Buches "Aufbruch von innen" verweisen noch auf weitere Denker und deren Werke. Einige davon möchte ich hier aufführen: Der XIV. Dalai Lama, Graf Karlfried Dürckheim, Erich Fromm, Rudolf Strahm, Carl Friedrich von Weizäcker. Der Kultschriftsteller der esoterischen Bewegung, Fritjof Capra, hat zu diesen Fragen auch Wesentliches beigetragen.

An vielen Stellen schien es mir, dass sich die Gedanken der Beaulieu-Bewegung mit jenen der feministischen Theologie treffen. Um dies zu überprüfen, habe ich das Buch "Das Antlitz der Erde erneuern"4 der holländischen Professorin für Christentum und Feminismus Catharina J.M. Halkes beigezogen. Sie setzt sich mit der gleichen Thematik wie die Beaulieu-Leute auseinander und legt eine "konkrete Utopie von Gerechtigkeit und Frieden und Respekt vor der Unverletzlichkeit der Schöpfung " vor. Auch die Schriften des Philosophen Hans Jonas, der sich im seinen neueren Arbeiten ganz intensiv mit der Verantwortung des heutigen Menschen befasst, habe ich für die vorliegende Arbeit verwendet.5

Im zweiten Teil der Arbeit gebe ich ein Gespräch wieder, das ich am 30. März 1995 mit Thomas I., einem Initianten der Bewegung und Mitautor des Buches "Aufbruch von innen", in Winterthur führte.

Die Schlussbemerkungen enthalten meine persönliche Stellungnahne zur Beaulieu-Bewegung.

2. Die Beaulieu-Bewegung
2.1. Die Gruppe - Organisation und Mitgliedschaft
Die Beaulieu - Gruppe traf sich erstmals im Jahr 1985. Die ersten Zusammenkünfte fanden in Bern im Restaurant Beaulieu statt, das der Bewegung den Namen gab. l99l wurde die Internationale Vereinigung Beaulieu in Hauterive bei Freiburg in der Schweiz gegründet. Sie hat heute über 350 Mitglieder in der Schweiz, in Deutschland und in anderen Ländern. Gründungsmitglieder waren zwei Frauen und acht Männer; die meisten von ihnen hatten schon langjährige Erfahrung in der Entwicklungszusammenarbeit Dazu gehören ein Agronom, eine Ethnologin, ein Philosoph, eine Ökonomin und ein Ökonom, ein Lehrer, ein Soziologe und ein Theologe.

Mitglied der Beaulieu-Bewegung kann werden, wer den Jahresbeitrag von Fr. 50.- bezahlt und sich mit den Grundgedanken der Bewegung einverstanden erklären kann; eine Mitarbeit ist nicht Bedingung. Den Statuten der Vereinigung ist eine "Orientierung für den Alltag" beigelegt, die die Mitglieder bei der persönlichen Lebensgestaltung begleiten soll:

"Ich entscheide mich:

- Mit Ausdauer an meinem inneren Gleichgewicht und meiner harmonischen Beziehung zur Welt zu arbeiten, als Grundlage für mein sozial-politisches Wirken.

- Jeden Tag eine Zeit der Stille einzuhalten, in aufmerksamer Wachheit.

- Mit Achtung und Verständnis den Anhängern anderer Religionen und philosophischen Schulen zu begegnen.

- Mich für eine weltumfassende soziale Gerechtigkeit und die Reinheit von Luft, Wasser und Erde einzusetzen.

- Meinen Gesamtkonsum einzuschränken, im Geiste der freiwilligen Einfachheit.

- Für eine gesunde Ernährungs- und Lebensweise.

- Die Art meiner diesbezüglichen Praxis selber zu bestimmen."

Ein Rundbrief, der viermal im Jahr verschickt wird, verbindet die Mitglieder miteinander und gibt den einzelnen Arbeitsgruppen die Möglichkeit, ihre Tätigkeit vorzustellen. Arbeitsgruppen gab es laut dem Rundbrief vom Juni 1994 zu folgenden Themen: Entwicklung des Bewusstseins, interreligiöser Dialog, Erziehung und Bildung, ökosoziale Wirtschaft. Die Gruppen arbeiten mehrheitlich in der Westschweiz. Das Sekretariat musste im Dezember 1994 von Winterthur provisorisch nach Freiburg gezügelt werden, dies infolge nicht näher genannter Schwierigkeiten.

Die Leute der Beaulieu-Bewegung wollen mit ihrer Arbeit Perspektiven, Möglichkeiten aufzeigen und so den weit verbreiteten Gefühlen der Hoffnungslosigkeit und Ohnmacht entgegentreten. Der Resignation soll eine Handlungsperspektive entgegengesetzt werden. Die gegenwärtige äusserst ernste Krise wollen sie als Chance nützen, um eine neue Gesellschaft zu entwerfen. Ohne Gewalt und Aggression soll der Umbruch der Gesellschaft durchgeführt werden. Unserer Demokratie, mit den schwerfällig arbeitenden Parlamenten, trauen sie höchstens Symptombekämpfung zu, aber keineswegs genügend effizientes Eingreifen. Beaulieu wendet sich an jeden Einzelnen, aber auch an ausserparlamentarische Bewegungen und Bürgerinitiativen. "Die Beaulieu - Bewegung versteht sich als Teil einer heute feststellbaren Strömung, die auf eine Veränderung des Bewusstseins und des Lebensstils zielt."6

2.2. Krankheitsbild der Erde - Unser Planet in der Krise
Im ersten Kapitel des Buchs "Aufbruch von Innen" wird ein niederschmetterndes Krankheitsbild der Erde entworfen. Die Stichworte sind bekannt: Ozonlöcher über dem Nord- und Südpol, Treibhauseffekt, Luft-, Boden- und Wasserverschmutzung, Zerstörung der Regenwälder, Bedrohung der Artenvielfalt, Verwüstung der Erdoberfläche, weltweite Arbeitslosigkeit, Nord-Süd-Graben, Verschuldung. Die Folgen dieser Krise sind Zerstörung der Natur und moralisches Elend. Sie manifestieren sich mit Tod und Verwüstung in den Entwicklungsländern und mit einer psychisch kranken Gesellschaft bei uns.

Der Mensch in der Industriegesellschaft ist für die Beaulieu-Gruppe ein krankes, verkümmertes und unglückliches Wesen. Noch nie war die materielle Bedürfnisbefriedigung so gut, und doch fehlt dem Menschen heute die Lebensfreude. Es fehlen ihm sowohl die religiöse als auch die ethische Orientierung. Er verwechselt Glück mit Macht und Besitz. "Sie (die Industriegesellschaft G.B.) führt auf den Holzweg, denn sie zeigt das Glück in der Gestalt des Vergnügens, des Genusses, der Anhäufung von Gütern und von Macht, in Form von Ansehen, das auf Haben und Wissen beruht statt auf Sein und Weisheit."7 Der Mensch ist nicht frei: In der Schule, in der Kirche und dem Staat überwiegen autoritäre Formen, die den Menschen entmündigen.

Für Beaulieu ist es klar, dass der Mensch heute einen wichtigen Teil seiner selbst verdrängt: Seine Körpergefühle, seine Visionen, seine Religiosität und seine Kreativität. Das hinterlässt in ihm eine tiefe Traurigkeit und Unzufriedenheit. Der unglückliche Mensch entwickelt irrationale psychische Bedürfnisse. Er wird zu einem Gefangenen in einem Teufelskreis von Ersatzhandlungen. Dazu gehört unser Konsumverhalten: Immer neue, meist nutzlose Anschaffungen, übermässiger Gebrauch von Genussmitteln und Drogen. Darin liegt auch die Quelle der menschlichen Aggressivität und Destruktivität. Dem Menschen fehlt die Demut vor der Schöpfung. Folge davon ist die hemmungslose Nutzung und Ausbeutung der Natur. Beaulieu zeichnet das Bild einer Zivilisation des Egozentrismus, in der Beziehungen verarmen und der Einzelne einsam seiner inneren Leere ausgesetzt ist.

Beaulieu wirft dem heutigen Menschen vor, dass dieser Tiere und Pflanzen als entheiligte, geistlose Wesen und Dinge ohne höheren Eigenschaften betrachtet, dass er Vernunft für sich allein in Anspruch nimmt und dass er das Menschenrecht höher einstuft als das Recht der Tiere oder der Natur.

In "Aufbruch von Innen" wird betont, dass die Wirtschaft eine beherrschende Rolle spielt und Entscheide, die für die Gesamtheit der Menschheit wichtig sind, ohne Möglichkeit der politischen Einflussnahme trifft. Immateriellen Werten, z.B. einem guten Betriebsklima und einer intakten Umwelt, steht die Wirtschaft fast gleichgültig gegenüber. Sie betrachtet das Bruttosozialprodukt als adäquaten Massstab für das Wohlergehen der Bevölkerung. Bekanntlich wird dieser Indikator unseres Wohlbefindens gesteigert auch durch die Kosten von Verkehrsopfern oder durch Militärausgaben.

Ein düsteres Bild zeichnet Beaulieu auch über die Entwicklungszusammenarbeit Nord-Süd. Im Buch "Aufbruch von innen" wird dargelegt, dass wir von der falschen Annahme ausgingen, unsere westliche Zivilisation sei entwickelt, und die armen Länder müssten auf den gleichen Stand wie wir gebracht werden. In der Entwicklungszusammenarbeit werden die Bedürfnisse des Menschen vorwiegend materiell verstanden, was von europäischem Ethnozentrismus und Materialismus zeugt. Bekanntlich wird der Graben zwischen armen und reichen Ländern immer grösser.

2.3. Ursachen der Krise
Die momentane Krise wird von der Beaulieu-Bewegung als eine Krise der abendländischen, christlichen Welt gesehen. Schuld ist der Anthropozentrismus, der den Menschen vor aller übriger Natur auszeichnet und zum Mittelpunkt der Schöpfung macht. Diese Haltung wurde von der christlichen Theologie der letzten 300 Jahre zementiert. Schon vor längerer Zeit formulierte Carl Amery die gleiche These in seiner 1972 erschienenen Schrift "Das Ende der Vorsehung, die gnadenlosen Folgen des Christentums."

Auch heute teilen verschiedene Stimmen innerhalb des Christentums diese Haltung. Am bekanntesten ist wohl der katholische Theologe Eugen Drewermann, der in seinem Buch "Der tödliche Fortschritt- Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums" ganz vehement den christlichen Anthropozentrismus anprangert. "..., die christliche Anthropozentrik kennt kein Recht der Kreatur, sie kennt nur den Menschen und seinen Nutzen, und an der Seite des abendländischen Menschen hat nur Platz, was den Zwecksetzungen des Menschen dient."8 Drewermann ist aber überzeugt, dass die eigentliche christliche Botschaft zugeschüttet wurde.

Drewermann unterscheidet zwischen dem jüdisch-christlichen Denken, das ganz den Menschen und seine Rücksichtslosigkeit gegenüber der Natur ins Zentrum stellt, und dem östlichen Einheitsdenken, das sich v.a. im rücksichtsvolleren Umgang mit den Tieren manifestiert. An erster Stelle nennt hier Drewermenn den deutschen Philosophen Fichte, der 1796 in seiner Naturrechtslehre die Lebensberechtigung der Tiere ausschliesslich nach dem Nutzen für den Menschen definierte. Ebenso prägende Denker der Aufklärung, die zu unserem heutigen dualistischen Weltbild beitrugen, sind für Drewermann Descartes, Fichte, Kant und Hegel.9

Auch von Seiten der feministischen Theologie wird unser Weltbild stark kritisiert. Nur wird da die Trennung weniger zwischen Mensch und Natur gesehen als vielmehr zwischen allem Weiblichen - wozu auch die Natur zählt - und dem Männlichen, wozu unsere Kultur gehört. "Es (das Buch von Halkes, G.B.) will uns helfen, uns auf die tieferen Ursachen des Machtunterschiedes zwischen Frauen und Männern und die Kluft zwischen Natur und Kultur zu besinnen. "10

Über den Zeitpunkt des Beginns dieser Fehlentwicklung sind sich die erwähnten Autoren einig: Als Anfang sieht die Beaulieu-Bewegung das 5. Jahrhundert vor Christus. Erstmals wurde der antike Götterglaube in Frage gestellt. Griechische Philosophen führten ein neues, für die abendländische Geistesgeschichte wegleitendes Prinzip ein: Die Trennung von Geist und Materie und die Stellung des Menschen im Mittelpunkt der Schöpfung. "Der Gedanke, der Mensch stehe im Zentrum der Schöpfung und die Natur sei ihm untertan, entstammt der beinahe 2500 Jahre alten griechischen Philosophie, auf die wir oben verwiesen haben. Nur dem Menschen wird eine spirituelle Qualität, eine göttliche Natur zuerkannt, nicht aber allen anderen Lebewesen und der unbelebten Natur."11

Für die feministische Theologie ist der Bruch in der geschichtlichen Entwicklung da angesiedelt, wo die Göttin verschwindet und der patriarchale christliche Gott dominant wird.

Die Beaulieu-Leute führen aus, dass diese Haltung während der Aufklärung noch verstärkt wurde. Jetzt wird der menschlichen Vernunft zugetraut, die Ordnung der Welt eigenständig zu durchschauen und entsprechend das Leben sinnvoll zu ordnen. Durch die Aufklärung ist ein Alltagsbild zustande gekommen, welches primär den Menschen als Schöpfer der Welt sieht. Das Ziel der Vollkommenheit und Glückseligkeit der Aufklärung hat eindeutig nur noch den Menschen im Auge.

Descartes, der Begründer des modernen Rationalismus, stellte die Regel auf, dass alles zu bezweifeln sei ausser der geistigen Tätigkeit, der Vernunft. Damit wurde der Mensch auf sich selbst zurückgeführt, und es ergab sich eine Schwerpunktsverlagerung: Die Welt wurde zum Material, zum Instrument der Entfaltung des Individuums degradiert. Das Ziel bestand nicht mehr darin, Gott, sondern sich selbst als Subjekt zu erkennen. Dem denkenden Subjekt stehen die materiellen Objekte gegenüber. Dieser Dualismus ist bis heute prägend.

Auch für die feministische Theologin Halkes ist unsere Welt seit der Aufklärung dualistisch aufgeteilt. Subjekt, und damit handelnd und bestimmend, ist der Mann, der die westliche, patriarchale Kultur verkörpert. Objekt ist alles Weibliche und Marginalisierte (Halkes rechnet dazu auch die 3. Welt-Länder) und die ganze Natur. Trotz aller Bemühungen der letzten Jahre haben Frauen bis heute nur Randfunktionen und können an der männlichen Dominanz nur wenig rütteln: "Unsere westliche Gesellschaft ist von einer vorwiegend männlichen Weltanschauung, Technik und Politik geprägt, die sich kaum Einhalt gebieten lässt und sich unsrer Kritik kaum stellt."12

Einzige Ausnahme im abendländischen Denken ist für Drewermann Arthur Schopenhauer und sein Schüler Albert Schweitzer.13 Diese Meinung wird im "Aufbruch von Innen" auch übernommen. Schopenhauer greift den jüdisch-christlichen Mythos von der Sonderrolle des Menschen an und lehrt eine Moral des Mitleids, die grenzenlos ist und alle Erscheinungen der Natur miteinbezieht. Schweitzer betont den Subjektcharakter nicht nur des Menschen, sondern auch der Natur insgesamt. Fur ihn ist das Grundelement aller Religionen die "Ehrfurcht vor dem Leben". Seinen Ursprung hat diese Ehrfurcht in der Aesthetik: das Leben ist schön.

Eine weitere Ausnahme ist für Drewermann der heilige Franziskus, der gerade durch das Christentum zu einer überzeugenden Haltung des Einklangs und der Verwandtschaft mit Sonne und Wind, mit Wasser und Feuer, mit Blume und Erde fand. Selbst den Tod redete Franziskus nicht als Feind, sondern als Bruder an.14

Halkes nennt zwei andere Bewegungen in der abendländischen, christlichen Welt, die sich vom erwähnten Dualismus abheben: Die hermetische und die alchemistische Philosophie. So unterschiedlich die beiden in ihren konkreten Vorstellungen sein mögen, so hätten beide einen grossen Respekt vor dem Kosmos und der Natur.15

2.4. Menschenbild - Gottesbild
Bevor ich das ideale Ziel und den Weg dazu darstelle, möchte ich zuerst dem Wesen des Menschen für Beaulieu nachgehen. Damit verbunden ist die Frage nach Gott, dem Verhältnis von Gott zum Menschen und der Eigenverantwortlichkeit jedes Einzelnen. Die Beaulieubewegung geht von einem positiven Menschenbild aus. Es geht also nicht darum, den Menschen zu ändern, sondern seine verkümmerten Fähigkeiten wieder hervorzuholen. "Wir sind nicht der Ansicht, dass sich der Mensch ändern muss, es geht vielmehr darum, das reiche Potential zu entfalten, das in uns verborgen liegt."16 Der Mensch ist ein mit Vernunft, Leidenschaft, Schöpferkraft und Spiritualität begabtes Wesen.

Die Befriedigung der materiellen Bedürfnisse stillt noch nicht den Hunger des Menschen. Für Beaulieu ist es klar, dass der Mensch ein angeborenes Bedürfnis hat, sich zu entfalten. Menschen brauchen auch ein religiöses Orientierungssystem. Religion entspricht dem menschlichen Bedürfnis nach Verstehen und nach Einheit.

Das Göttliche und das Spirituelle wohnen überall, auch in jedem Menschen. Gott schuf den Menschen nach seinem Bild. Beaulieu beruft sich hier auf auf die Bibelstelle in Genesis 1.27: "Und Gott schuf den Menschen nach seinem Bild, nach dem Bild Gottes schuf er ihn."

Gerade deshalb aber darf sich der Mensch nicht überschätzen. Es geht darum, dem Menschen wieder den richtigen Platz zuzuweisen: als unendlich kleiner Teil der Schöpfung und nicht im Zentrum stehend. Als Randerscheinung der Natur, die auch ohne den Menschen weiterleben wird. Der Mensch ist nur Treuhänder, Verwalter der Schöpfung.

Für Beaulieu ist Gottes Atem überall, alles Geschaffene ist göttlich. Er hat nicht nur die Erde geschaffen, sondern das gesamte Universum. Gott könnte man ein allem zugrundeliegendes Prinzip nennen. Gott gibt es nur einmal. Die Erfahrung des Einsseins ist die Erfahrung Gottes. Ueber Gott hinaus kann der Mensch nicht gehen. Beaulieu rechnet nicht mit dem erlösenden Eingreifen einer Macht, die Macht ist in uns selber.

2.5. Ziel - Beginn einer neuen Praxis
Beaulieu entwirft in "Aufbruch von Innen" ein neues Weltbild für eine lebenswerte Zukunft. Darin steht nicht mehr der Mensch im Mittelpunkt der Schöpfung. Er kann auch wieder daraus verschwinden, die Schöpfung und das Leben werden auch ohne Menschen weiterbestehen. In erster Linie brauchen wir eine neue Ethik, die den neusten Entwicklungen Rechnung trägt: "der steigenden Bevölkerungszahl, der Belastung der Umwelt, der beschleunigten Ersetzung der menschlichen Arbeitskraft durch immer produktivere Technologien, der Zunahme der Freizeit und der Arbeitslosigkeit, der gegenseitigen Abhängigkeit der Menschen, der weltweiten Kommunikationsmöglichkeiten."17

Auch für den Philosophen Hans Jonas ist es klar, dass es eine Ethik geben muss, im Gegensatz zur Religion, die es gibt oder eben auch nicht, eine Ethik, die die menschlichen Handlungen in eine Ordnung bringt und die Macht reguliert. Die Ethik ist eine Orientierungshilfe für Entscheide des Einzelnen oder des Kollektivs. Sie ist unabdingabre Voraussetzung für eine gerechte, solidarische Gesellschaft.18

Capra fordert in seinem Werk ebenfalls ein neues Weltbild, in dem die Trennung von Mensch und Natur, die das Fundament der modernen Technik darstellte, überwunden wird, um einer Sicht auf den Zusammenhang alles Lebenden - Mensch, Natur und Kosmos - Platz zu machen.19

"Das höchste Ziel, das der Mensch in seinem Leben erreichen kann, ist dauerhaftes Glück."20 Hier trifft sich die Beaulieu-Bewegung mit Ideen der griechischen Philosophie, die die Glückseligkeit als Motiv und Ziel alles Strebens betrachtet - ein Gedanke, der in der Aufklärung wieder aufgenommen wurde. So fordert z.B. Isaak Iselin, ein Basler Pädagoge jener Zeit, als Ziel jeder Erziehung die Vollkommenheit und Glückseligkeit des Einzelnen.21

Der Sinn des Lebens liegt darin, den Weg der ständigen Reife zu gehen, auf der Suche nach der Einheit mit der Welt, mit der Schöpfung. Analog zu anderen Religionen könnte man diesen Weg als Pfad bezeichnen, den die Mystiker gehen auf der Suche nach Gott. Dieser Pfad der Reifung bedeutet, sich dem natürlichen Lauf des Lebens nicht zu widersetzen und zum Kreislauf des Lebens ja zu sagen. Dazu gehört auch: zeugen, gebären, nähren, heranziehen - und dann auch die Frucht wieder in die Freiheit entlassen.

Der Mensch wird im Idealzustand autonom und frei sein, dadurch aber wieder zur Bedrohung werden für jede autoritäre Macht. Es gilt, den inneren Reichtum zu entdecken, den uns niemand mehr stehlen kann. "Das gibt uns ein Gefühl der Sicherheit, wir brauchen die anderen nicht mehr zu fürchten. Die Mitmenschen sind nicht mehr unsere Konkurrenten im Wettstreit um Reichtum, denn unser Reichtum ist nicht käuflich, nicht vergänglich, er ist unerschöpflich."22 Eine selbstgewählte Einfachheit, die auf unnötigen materiellen Besitz verzichtet, macht den Menschen frei und unabhängig. Demokratische Askese ist ein Stichwort, das in Anlehnung an Carl Friedrich von Weizsäcker auftaucht. Für die Beaulieu-Bewegung ist das Ziel des menschlichen Lebens die Selbsterkenntnis - die Erkenntnis unserer Möglichkeiten, aber auch Grenzen. Daraus entsteht Selbstbewusstheit, aber auch Bescheidenheit.Auch die Empfindsamkeit der Welt, dem Mitmenschen und allen Gegenständen gegenüber soll gestärkt werden.

Eine neue Achtung vor der Natur, der Schöpfung muss entstehen, die nicht auf Furcht, aber auf Staunen und Demut gründet. Da wird deutlich, was Beaulieu mit Spiritualität auch meint: Staunen vor dem wunderbaren Sein der Welt. "Je tiefer wir eindringen in die Kenntnis der Materie, je grösser unsere Erkenntnis der Strukturen und Zusammenhänge, umso mehr verschlägt es uns die Stimme und wir werden still vor Bewunderung."23 Grösseres Mitgefühl wird dem Menschen ermöglichen, auch Trauer und Leid zu empfinden und besser zu ertragen.

Schlüsselwort ist der Begriff der Liebe, der hier im Sinn von Fromm verwendet wird. Liebe, die mit keiner Gegenleistung rechnet, die die Liebe zu sich selbst, zur Familie, ja zur ganzen Menschheit miteinbezieht, eine Liebe, die grenzenlos ist und sich durch die Aspekte Wahrnehmen, Achtung, Verantwortung und Aufmerksamkeit auszeichnet. "Liebe ist eine grundlegende und unteilbare Haltung sich selbst, dem Nächsten, der Menschheit und der Schöpfung gegenüber. Liebe kennt keine Grenzen, sie fängt nicht beim Partner an und hört nicht bei der Familie auf."24

Im Buch "Aufbruch von innen" wird das Bild einer zukünftigen Welt entworfen, in der es zu einer Synthese uralter spiritueller Traditionen und allen Weltreligionen gekommen ist. Nicht das Trennende, sondern das Verbindende soll in allen Religionen gesucht werden. Eine neue Spiritualität lässt alle Religionen zu; sie soll Wege ausserhalb des Materialsmus aufzeichnen, Wege, die dem Menschen ermöglichen, den Geist, aber auch die Vernunft zu gebrauchen. Damit soll ein Bruch mit der Philosophie der letzten 300 Jahre entstehen, in der bei uns Anthropozentrismus, Materialismus, wissenschaftlicher Rationalismus und europäischer Ethnozentrismus vorgeherrscht haben. Die neue Philosophie nennt Beaulieu "Ökospiritualismus."

Beaulieu formuliert Ideen, wie das menschliche Leben aussehen soll. Die Lebensabschnitte werden mehr gelockert, die Trennung zwischen Kindheit, Erwerbstätigkeit und Pensonierung wird weniger streng sein. So dürfen Spiel, Sport und Bildung nicht allein der Jugend vorbehalten sein. Auch im Erwachsenenalter ist Platz für Kreativität und nicht-zweckgerichtete Tätigkeiten. Umgekehrt soll aber auch produktive Tätigkeit im Ruhestand Platz haben. "Die betagten Menschen, die zeitlebens ihre innere Ruhe entwickelt und gepflegt haben, werden jedoch die nötige Energie und schöpferische Kraft finden, ihr Wissen den Jungen auf packende Weise weiterzugeben. Ihre Erfahrung und ihr Weitblick lassen sie zu unentbehrlichen Ratgebern der Arbeitswelt werden, an der sie dadurch teilhaben."25

In Buch werden auch ganz konkrete Lösungsvorschläge formuliert: Ein Lebensstil mit einem dichten Netz von Austauschbeziehungen ist gefordert. Die Wohnsiedlungen der Zukunft sollen durchmischter werden, Arbeits- und Wohnort möglichst nahe beieinander liegen. Ältere, kranke und pflegebedürftige Menschen sind im Quartier integriert. Nachbarschaftshilfe bekommt einen wichtigen Stellenwert. Freizeit wird in Zukunft immer mehr zur Verfügung stehen. Die Beaulieu-Bewegung macht Vorschläge, wie diese zu gestalten sei: Yoga, Tai Chi, Gartenarbeit, Einmachen von Früchten und Sammeln von Beeren, Basteln, usw. In der Freizeit sollen auch Freundschaften gepflegt werden. Für Beaulieu ist es klar, dass ein von Ökospiritualität infizierter Mensch ein politischer ist. Er übernimmt Verantwortung für sich und die Umwelt. Er nimmt teil an der Leitung der Gesellschaft und stellt dafür einen Teil seiner freien Zeit zur Verfügung.

Reisen sind dazu da, in Erfahrungsaustausch mit anderen Menschen zu treten. Sie sollen sorgfältig vorbereitet werden und möglichst unmotorisiert durchgeführt werden: zu Fuss, mit dem Velo oder dem Segelboot.

Ein ganzes Kapitel in "Aufbruch von innen" wird der Landwirtschaft gewidmet. Eine radikale Bewusstseinsänderung bei den Konsumentinnen und Konsumenten gilt da als grosse Hoffnung. Je bewusster eingekauft wird, desto eher hat eine biologische Landwirtschaft eine Chance, desto eher kann auch der ökologisch sinnlose Fleischkonsum eingeschränkt werden. Bei der Entwicklung der Landwirtschaft sollte auch immer das Ziel der Vollbeschäftigung im Auge behalten werden. Es hat keinen Sinn, Produktionstechniken zu entwickeln, die dann Arbeitsplätze wegrationalisieren.

2.6. Der Weg
Das "Endziel" wurde im letzten Kapitel skizziert. Zu beantworten bleibt die Frage, wie man dahin gelangen könnte. Aus dem im letzten Kapitel beschriebenen Denken resultieren verschiedene Praktiken:

Für Beaulieu spielt auf dem Weg der Veränderung die Spiritualität eine grosse Rolle. In "Aufbruch von innen" wird vage umrissen, was damit gemeint sein könnte. Die Stille, die Besinnung und Meditation müssen Platz finden in unserem Leben. "Wir schlagen vor, dass wir - als einen ersten Schritt - uns jeden Tag eine Zeit der Stille gewähren. Eine Zeit ohne Konsum und ohne Arbeit, während der wir wach sind, ruhig und bewusst, aufmerksam auf den inneren Dialog, wir tun dies mit dem Ziel, zu einem inneren Zustand der Stille, ohne Gedanken zu gelangen."26 Im Rundbrief vom Dezember 1994 führt Gil Ducomen aus, dass mit Spiritualität das Urreligöse gemeint sei, das allen Religionen gemeinsam sei.27 Er vergleicht die verschiedenen Glaubensrichtungen mit den Speichen eines Rades: Alle haben das gleiche Zentrum und führen zur selben Nabe. Das höchste Ziel ist für alle die Vereinigung mit dem Urprinzip, mit dem Göttlichen. Nur Materialismus und Sektierertum sind für Gil Ducomen mit Spiritualität unvereinbar. Die tägliche Zeit der Stille könnte Menschen aller Länder und Glaubensrichtungen vereinigen.

Drewermann nennt als ersten Schritt, aber nur als Notbehelf, die Psychoanalyse, mittels welcher der abendländische Mensch zu den verschütteten und verdrängten Teilen seiner Psyche vordringen kann.28 Den Träumen misst er grosse Bedeutung zu. Die Rettung des Menschen und der Erde hängt für Drewermann mit der Rückkehr zur Traumzeit zusammen, denn in Träumen offenbaren sich göttliche Visionen für ihn. Der Mensch, der von religiösen Träumen und Bindungen gelöst ist, verliert auch die Beziehung zu der ihn umgebenden Natur. Neben der Psychoanalyse nennt Drewermann die Kunst, die den Quellen der Wahrheit sehr nahestehe.

Jonas sieht als Motor für die Veränderung die Furcht. Er warnt vor einer Katastrophe: "..wie danach ein Menschheitsrest auf verödeter Erde neu beginnen mag, entzieht sich aller Spekulation"29 Er stellt die Maxime auf: Handle so, dass die Wirkungen deiner Handlung verträglich sind mit der Permanenz menschlichen Lebens auf Erden. Der Mensch sollte sich vor jeder Handlung fragen, was im schlimmsten Fall aus ihr werden könnte. Der ethische Schlüsselbegriff im Denken von Jonas ist die Verantwortung, die er in seinem wichtigen Buch "Prinzip Verantwortung" ausformuliert. Jonas weist der Philosophie eine neue Aufgabe zu, nämlich das Verhältnis von Mensch zur Natur zum Gegenstand sittlicher Überlegung werden zu lassen, sei doch bis jetzt immer das Nachdenken über das Verhältnis von Mensch zu Mensch im Vordergrund gestanden.30

Politiker, Wissenschafter und Technokraten sprechen auch von einer Wende in die Zukunft, aber sie meinen damit eine noch schnellere und spezialisiertere technische Entwicklung, eine Automatisierung, eine Computerisierung der Gesellschaft. Für Beaulieu ist dies eindeutig die falsche Richtung.

3. Gespräch mit Thomas I. am 30. März 1995
Das Treffen mit Thomas I. fand während des Mittagessens in einem eher lärmigen Restaurant in Winterthur statt. Ich konnte nicht wie geplant meine vorbereiteten Fragen stellen. Es entwickelte sich spontan ein Gespräch, in dem Thomas I. darlegte, was für ihn an der Beaulieu-Idee wesentlich sei. Vieles wusste ich bereits aus der Lektüre des Buches, der Rundbriefe und der Statuten; zum Teil setzte er die Akzente etwas anders.

Auf meine Frage, wo denn Beaulieu in der aktuellen politischen und sozialen Auseinandersetzung bleibe, antwortete Thomas I., dass Publicity im Moment kein Thema sei. Der Schwerpunkt von Beaulieu liege nicht bei projektorientierter Arbeit. Vielmehr gehe man davon aus, dass alle Mitglieder in einem anderen gesellschaftlichen Bereich aktiv seien und sich dort für die Anliegen von Beaulieu einsetzen würden, sei es in einem Hilfswerk, einer Gewerkschaft, der Politik o.a. Die Frage der Mitgliederwerbung wird immer wieder neu diskutiert. Im Moment überwiegt die Tendenz, die Bewegung organisch wachsen zu lassen. Die meisten Leute - es sind vorwiegend ältere - stossen über das Buch "Aufbruch von innen" zu Beaulieu.

Die Resonanz in der Presse ist klein, dafür reichen die Kapazitäten einfach nicht. Die Vorstandsmitglieder erledigen ihre Arbeit ehrenamtlich und sind meist auch sonst sehr beansprucht. Beaulieu plant aber, zum Thema "Arbeitslosigkeit" eine Deklaration zu veröffentlichen, die dann ein Medienecho auslösen soll. Eine Mitgliedschaft bei Beaulieu tritt nirgends zutage, obwohl Persönlickeiten aus Politik und Kultur sich dazu zählen. Thomas I. nennt Namen, die bekannt sind durch ihre Mitarbeit bei der Erklärung von Bern, beim Fastenopfer oder als Inhaber eines politischen Amtes. Beaulieu Menschen sind politisch denkende Menschen. Thomas I. bestreitet aber, dass man sie in ein Links-Rechts-Schema einordnen könne; die Mitglieder würden allen politischen Richtungen angehören.

Thomas I. betont, dass Beaulieu nicht dogmatisch, nicht sektiererisch, aber auch nicht kirchenfeindlich sei, dass Beaulieu sich weder gegen eine religöse Bewegung noch gegen New Age wenden würde.

Der Beaulieu- Bewegung anzugehören bedeutet nicht, kulturfeindlich zu sein. Unsere Kultur wird da kritisiert, wo sie die Spiritualität aus dem Leben ausklammert. Viele Elemente, die unsere Kultur zustande gebracht hat - Thomas I. nennt Renaissance und Aufklärung - müssten erhalten bleiben. Die bei uns vorherrschende Rationalität wird zwar kritisch beurteilt, aber keinesfalls einfach abgelehnt. Thomas I. meint, dass man Rationalität nicht gegen Intuition und Spiritualität ausspielen könne. Nur dürfe Rationalität nicht als Ganzes, als allein Gültiges gelten. Sie muss als sehr gut entwickeltes Instrument zur Lösung unserer Probleme eingesetzt werden. Es geht also nicht darum, die Zeit zurückzudrehen und etwas zu suchen, das man verloren glaubt. Ob es das goldene Zeitalter, in dem Spiritualität Platz hatte im täglichen Leben, einmal gegeben hat, bleibt Spekulation.

Die Frage der Spiritualität steht für Thomas I. im Vordergrund. Er ist daran, zu diesem Thema mit anderen Mitgliedern der Bewegung ein Buch zu schreiben. Spiritualität ist kein Theoriegebilde, sie liegt im persönlichen Erfahrungsbereich. Jeder sucht sich seine eigene spirituelle Praxis - man "leiht" sich aus anderen Kulturen etwas "aus", da in unserer Kultur Spirituelles weitgehend zugeschüttet wurde, der eine betreibt Zen, der andere meditiert auf christliche Art. Aus dieser gelebten Spiritualität holt sich jedes Mitglied die Kraft, nach aussen zu treten und aktiv zu werden - daher auch der Name "Aufbruch von innen".

Es geht also nicht darum, die Religion zu privatisieren, sich zurückzuziehen, sondern darum, Kraft zu schöpfen, um nach aussen wirksam zu werden. Der Mensch ist ein spirituelles Wesen, steht aber immer in einem gesellschaftlichen Zusammenhang. Ziel der Spiritualität, die gelebt wird in der täglichen Zeit der Stille, ist das Bewusstmachen des eigenen Kontextes.

Der Mensch ist nicht nur ein spirituelles Wesen, der Körper muss integriert werden. Auch Aggressionen gehören zum Bereich der menschlichen Emotionen. Der Mensch hat die ganze Palette der menschlichen Seinsformen zur Verfügung.

Thomas I. möchte klar getrennt haben zwischen New Age und Beaulieu. Die beiden Bewegungen unterscheiden sich nach ihm danach, wie sie mit unterschiedlichen Weltbildern umgehen. Während New Age ein verallgemeinerndes Weltbild verbreitet, versucht sich Beaulieu mit verschiedenen Weltbildern auseinanderzusetzen. Thomas I. spricht im Zusammenhang mit New Age von einem nebulösen Wortgemisch, er möchte dem eine kritisch-rationale Auseinandersetzung entgegenhalten. Angesprochen werden sollen durch Beaulieu aber durchaus Leute aus der New Age-Bewegung, aber auch politisch aktive Menschen, die in ihrer Arbeit frustriert sind. Anfänglich hoffte man, wesentlich mehr Leute zu erreichen.

Die Frage nach der Trennung von Natur und Mensch, wie sie in Buch "Aufbruch von innen" mehrmals angesprochen wird, steht nicht im Vordergrund. Sowohl im Menschen als auch in der Natur hat es körperliche und spirituelle Kräfte: Gelebte Spiritualität drückt sich aber aus im Verhältnis von uns Menschen zur Natur. Umweltzerstörung ist ein Zeichen dafür, dass wir unsere innere Natur nicht leben.

Angesprochen auf die Orientierung im Alltag, erklärte mir Thomas I., dass diese anfänglich als Verpflichtung formuliert gewesen sei, die jeder vor dem Eintritt in die Beaulieu-Bewegung habe unterschreiben müssen. Dies führte aber immer wieder zu Unsicherheiten und Kontroversen. Jetzt kann man Mitglied werden, ohne diese Selbstverpflichtung unterschreiben zu müssen. Thomas I. selber ist immer stark für die Selbstverpflichtung eingetreten. Seine Idee war es, nur Leute aufzunehmen, die nicht nur fordern, sondern etwas tun.

Bestehen Verbindungen von Beaulieu zum Ausland? Rund ein Viertel der Mitglieder leben in einem anderen europäischen Land, in Deutschland, Holland, Österreich oder Belgien. Eine ähnliche Organisation existiert in diesen Ländern nicht. Zur "Deep ecology", einer Bewegung, die zurzeit in den USA auf sich aufmerksam macht, besteht kein direkter Zusammenhang. "Deep ecology" (Tiefenökologie) sucht die Lösung unserer Probleme in Naturmeditationen. Dabei soll die beim Menschen der Industrienationen verkümmerte Wahrnehmung von Steinen, Bäumen, Quellen und anderen Naturerscheinungen sensiblisiert werden. Das Ziel der beiden Bewegungen Beaulieu und Deep ecology, ein spirituell transformierter Mensch, ist das gleiche.

Mich interessierte der Zusammenhang zwischen dem Hotel Maderanertal und der Beaulieu-Bewegung. Diese Verbindung stellte Thomas I. her. Er wollte das Hotel zu einem Begegnungszentrum für die Mitglieder von Beaulieu machen, was an mangelndem Interesse scheiterte. Der Besitzer, der das Hotel jetzt verkaufen will, ist ebenfalls Beaulieu-Mitglied.

Abschliessend meint Thomas I., dass die Möglichkeit zur Erneuerung der Gesellschaft so weit wie die eigene spirituelle Erfahrung reiche. Der Weg nach aussen, der "Aufbruch von innen" führt über das Erkennen des eigenen innersten Wesenskerns zur Erneuerung der Gesellschaft. Dazu gehört die intellektuelle philosophische Argumentation.

4. Schlussbemerkungen
Während der Arbeit stellte sich mir immer wieder ein grosses Problem: die Betroffenheit. Die apokalyptischen Visionen, wie sie Beaulieu darstellt, gehen mich direkt etwas an. Mit Schwarzmalerei können sie nicht einfach abgetan werden. Ich habe im Buch keine Behauptung gefunden, die nicht überprüft werden könnte. Ich kann den schlechten Nachrichten nicht aus dem Weg gehen; sie erreichen den Zeitungsleser täglich. Die Beaulieu-Bewegung hat ein Anliegen, das uns alle etwas angeht: das Ueberleben der Menschheit.

Die Verurteilung unserer Gesellschaft scheint mir aber stellenweise zu pauschal. Die Lebensfreude fehlt nicht generell, nicht alle Menschen sind krank, unglücklich und unzufrieden. Kultur, Sport, Freundschaften ermöglichen es auch heute, ein ausgefülltes, sinnerfülltes Leben zu führen.

Die Art, wie Beaulieu die Probleme angeht, erfordert Geduld. Ich frage mich, ob wir uns so viel Zeit für unser inneres Wachstum nehmen können, obwohl wir mit dem Kopf längst schon wissen, was zu tun wäre. Steckt dahinter nicht eine elitäre Haltung von uns reichen Menschen, die schon alles besitzen? Ich glaube nicht, dass die Beaulieu-Idee mehr als eine ganz kleine Minderheit der Menschen erfassen kann. Mit ihren Gedanken trägt die Beaulieu-Bewegung unserer Gesellschaft zu wenig Rechnung, die gezeichnet ist durch eine grosse Mobilität und eine schnelle Verbreitung der Datenverarbeitungs- und Kommunikationstechnologie. Die Entwicklung läuft in eine andere Richtung, als es Beaulieu vorschlägt: Die wenigsten unter uns werden freiwillig auf ihre Flugreisen verzichten und stattdessen auf eine Velotour gehen. Mir fällt auf, dass eines der wichtigsten Gesprächsthemen im Moment in der Öffentlichkeit - im Zug, auf der Strasse in Restaurants - die Ferienreisen sind. Als Reiseziele werden kaum Orte in der Schweiz genannt, sondern Australien, Indonesien, Florida.

Viele von uns vermissen eine spirituelle Dimension im Alltag. Die Hektik lässt uns kaum zur Ruhe kommen. Dass geistige und ethische Werte auch in der Politik fehlen, kommt in den Medien deutlich zum Ausdruck. Das Recht des Starken und Reichen gilt als Richtlinie. Ein fehlendes religiöses Symbolsystem kann aber nicht verbindlich durch ein neues ersetzt werden. Beaulieu schlägt vor, dass der Mensch selber bestimmen soll, wie seine Spiritualität aussehen soll. Diese Wahlfreiheit könnte den Menschen überfordern. Es scheint mir eine neue Art von Religion zu sein, die sehr individuell ist; es fehlt ihr die von Generation zu Generation weitergegebene Tradition und das Wissen um die letzten Dinge.

Und doch hat mich die Bescheidenheit und Geduld, wie sie auch Thomas I. ausstrahlt, fasziniert. Ich bin mir gewohnt, Unterschriften zu sammeln, Flugblätter zu verteilen oder eine Tatsache resigniert zur Kenntnis zu nehmen. Mit diesem Aktivismus allein lässt sich die Gesellschaft nicht verändern. Er führt zu Feindbildern:

Alle, die mein Anliegen nicht unterstützen, werden zu Gegnern. Nicht wenige engagierte Leute sind mit der Zeit frustriert und brennen aus. Eine weitere Stärke von Beaulieu ist die Toleranz und Offenheit anderen Religionen und Weltanschauungen gegenüber.

Ob ich mit Thomas I. einen zentralen Vertreter von Beaulieu getroffen habe, wurde mir nicht klar. Er hat sich jetzt aus dem Vorstand zurückgezogen und auch das Sekretariat nach sehr kurzer Zeit wieder abgegeben. Für eine weitere Auseinandersetzung wäre es sicher richtig, auch mit andern zu sprechen. Zu einer Mitgliedschaft bei Beaulieu konnte ich mich bis jetzt noch nicht entscheiden; ich warte dafür auf weitere Anstösse.

Die Bewegung kann noch nicht kritisch aus Distanz beurteilt werden. Sie ist noch nicht Geschichte, sie versucht, eine Antwort auf drängende Probleme der Gegenwart zu geben und Lösungsmöglichkeiten aufzuzeigen.

Die Wirksamkeit kann noch nicht überprüft werden. Als Zeitgenossen sind wir dazu aufgefordert, Stellung zu beziehen. Wie immer wir uns zu Beaulieu stellen - wir können der Bewegung nicht absprechen, dass sie sich ernsthaft und engagiert und ohne zu moralisieren mit den Problemen unserer Zeit auseinandersetzt und nicht - wie heute weit verbreitet - die Augen davor verschliesst.

5. Anmerkungen
1) Neue Wege, Organ der Religiös-sozialistischen Vereinigung der Deutschschweiz, Zürich, September 1992. S. 270

2) Aufbruch von innen. Hg. Beaulieugruppe, Frankfurt am Main 1991

3) Drewermann, Eugen. Der tödliche Fortschritt. Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums, Regensburg 1981

4) Halkes, Catharina J.M., Das Antlitz der Erde erneuern. Gütersloh 1990.

5) Jonas, Hans. Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt am Main 1987

Jonas, Hans. Dem bösen Ende näher. Frankfurt am Main 1993

6) Statuten der Beaulieu Bewegung, S. 1

7) Aufbruch, S. 43

8) Drewermann, S. 99

9) a.a.O, S. 96

10) Halke, S. 14

11) Aufbruch, S. 46

12) Halke, S. 7

13) Drewermann, S. 99 ff

14) a.a.O, S. 108

15) Halke, S. 76

16) Aufbruch, S. 63

17) Aufbruch, S. 75

18) Jonas, Prinzip Verantwortung. S. 58

19) vgl. Halke, S. 92

20) Aufbruch, S. 41

21) vgl. Iselin, Isaak. Die Geschichte der Menschheit. Zürich 1768

22) Aufbruch, S. 64

23) Ducommun, Gil, Ökospiritualität, S.188

24) Aufbruch, S. 84

25) Aufbruch, S. 91

26) Aufbruch, S. 87

27) Ducommun, Gil, Rundbrief 17/18 S.2

28) Drewermann, S. 146

29) Jonas, Prinzip Verantwortung, S. 252

30) Jonas, Dem bösen Ende näher, S. 13

6. Literaturverzeichnis
Beaulieu-Gruppe (Hrsg.): Aufbruch von innen. Manifest für eine Ethik der Zukunft. Frankfurt am Main: Fischer Taschenbuch 1992.

Drewermann, Eugen: Der tödliche Fortschritt. Von der Zerstörung der Erde und des Menschen im Erbe des Christentums. Regensburg: Verlag Friedrich Pustet 1981.

Ducommun, Gil: Spiritualität? In: Beaulieu-Rundbrief 17/18. Dezember 1994.

Ducommun, Gil: Aufbruch von innen. Ökospiritualität- Eine Geisteshaltung für morgen? Aufsatz

Halkes, Catharina J.M.: Das Antlitz der Erde erneuern. Mensch, Kultur, Schöpfung. Gütersloh: Gütersloher Verlags-Haus Mohn 1990.

Jonas, Hans: Das Prinzip Verantwortung. Frankfurt am Main: Insel-Verlag 1987.

Jonas, Hans: Dem bösen Ende näher. Hrsg. v. Wolfgang Schneider. Frankfurt am Main: Suhrkamp- Verlag 1993.

Neue Wege. Organ der Religiös-sozialistischen Vereinigung der Deutschschweiz. Zürich, September 1992.

Gabi Böckli - Bretschger
Starenweg 19c
8405 Winterthur

Mai 1995

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