www.relinfo.ch

 
  Sonnentempler Ordre du Temple Solaire
  Uebersicht
  Religion als Opfergang
Überlegungen nach der zweiten Sonnentemplertragödie
aus: Informationsblatt Nr. 1/96
Grenzenlose Opferbereitschaft
Wieder ging eine Gruppe von Menschen, wahrscheinlich von ihren toten Meistern gerufen und von noch lebenden Anhängern geführt und gedrängt, gemeinsam in den Tod. Wie war dies möglich? Warum opfern Menschen alles, wenn es sein muss auch das eigene Leben, für eine Sache, über die Aussenstehende sich im besten Fall den Kopf zerbrechen? Ist das, was geschah, mit der Martyriumssehnsucht im alten Christentum verwandt? Oder wie stand und steht es um die Jünger ihrer Gurus, die für ihren Meister nicht nur ihr Vermögen opfern, die ihm zuliebe nicht nur ihre bisherigen Familienbande und ihre berufliche Laufbahn aufgeben, sondern die sich, wenn es sein muss, für ihn verbrennen, der Welt als Warnung und sich selbst und dem Meister als Beweis grenzenloser Liebe? Steckt in der uralten und hochaktuellen Opferbereitschaft des Menschen mehr Logik oder Psychologik, als sich der moderne Verstand gemeinhin vorstellen kann?
Unendlicher Wert
Jo di Mambro, der im Herbst l994 mit 52 anderen Sonnentemplern gemeinsam verstorbene Meister des Sonnentempels, hat während Jahren Jüngerinnen und Jünger mit seltsamsten Methoden, ja sogar mit technischen Tricks, an sich gebunden (vgl. Thierry Huguenin, Der 54., Bastei/ Lübbe 1995). Jo di Mambro schenkt nach Bedeutung lechzenden Zeitgenossen das Gefühl, endlich in ihrem tiefsten Sein erfasst und verstanden zu werden. Jedes Mitglied des Tempels erfährt durch Jo, was für eine sensationelle Persönlichkeit er in einem früheren Leben war. Endlich werde ich erkannt. Endlich sehe ich mich, und sehen andere mich, wie ich bin. Ich bin ein Phänomen. Ich bin grossartig.

Die banale Arbeitswelt und die kleinbürgerlichen Verhältnisse zu Hause sind ein denkbar schlechter Rahmen für das grossartige Bild, das der Meister und seine Gruppe in mir entdeckt. Ich bin ein kleinbürgerlich maskiertes Urwesen.

Der Alltag ist Maske. Im Tempel zeigt sich mein wahres Gesicht. Die weissen und roten Tempelrittergewänder - die Farbe dokumentiert die Einweihungsstufe - setzen das Bild in den viel adäquateren Rahmen. Ich bin ein herer Ritter aus der Heldenzeit des Mittelalters, der jetzt zufällig dieses Leben mehrheitlich damit verbringt, Formulare auszuwerten. Bedeutungslosigkeit zermürbt. Bedeutung beflügelt. Bedeutungslosigkeit macht krank. Bedeutung heilt. Bei Jo di Mambro finden in die kleine Alltagswelt eingezwängte scheinbare Normalbürger zurück in ihr wahres Wesen. Wahrscheinlich gibt es den sog. Normalbürger immer nur zum Schein. Vielleicht ist jede und jeder grundsätzlich bereit, in sich noch kaum erahnte und im Alltagstrott verkannte Möglichkeiten zu entdecken. Kein Röbi ist nur der Röbi, der Formulare kontrolliert.

Opfer schenkt Bedeutung, und Bedeutung drängt ins Opfer
Was später geopfert werden soll, muss zuerst unendliche Bedeutung gewinnen. Oder umgekehrt: Das spätere Opfer taucht schon jetzt den Opfernden und das Opfer in himmlisches Licht. Im Opfer wirft der Mensch nicht das fort, was keine oder nur geringe Bedeutung hat. Der Opfernde opfert immer das unendlich Wertvolle. Zum Tieropfer werden fehlerfreie Tiere auserwählt. Wo nur zeichenhaft rudimentär geopfert wird, wird das Rudiment in seiner Symbolik zum Spiegelbild des ganzen Lebens. In der Psychologik des Opfers schenkt das Opfer allen Beteiligten einzigartige Bedeutung und der einzigartig bedeutungsvolle Mensch ist zu jedem Opfer bereit. Warum ziehen sich die Menschen, die durch Jo di Mambro erfahren haben, dass sie einmal Bernhard von Clairvaux oder eine andere grossartige Persönlichkeit oder gar ein mythisches Wesen der Vorzeit waren, nicht aus dem Sonnentempel zurück? Warum unterziehen sich diese grossartigen Persönlichkeiten kommentarlos den Schikanen ihres Meisters, der sie wochenlang mühsam und gratis arbeiten lässt? Meine Opferbereitschaft schenkt mir Bedeutung. Mich für den Meister zu opfern schenkt meinem Leben Glanz. Und die Bedeutung, die ich durch den Meister und die Gruppe fand, drängt mich wieder in immer neue Opferbereitschaft. Das Opfer schenkt Bedeutung, und Bedeutung drängt ins Opfer. Diesem Zirkel wollen und können sektenähnliche, d.h. radikal opferbereite Gruppierungen nicht entrinnen.
Inszenierte Transzendenz
Jo di Mambro schenkt dem Ordensmitglied durch elektronisch inszenierte Lichterscheinungen und andere Zirkuswunder Begegnung mit transzendenter Wirklichkeit. Menschen, bisher eingezwängt in die engen Mauern der Normalwelt, erfahren plötzlich Durchbrüche in mythische Sphären. Diese Fenster in die Transzendenz, durch Jo di Mambro elektronisch geöffnet, sind die klarsten Demonstrationen meiner neuen Würde. Das Tor zur göttlichen Sphäre öffnet sich vor den Auserlesenen. Die himmlischen Meister erscheinen vor den Auserwählten. Der heilige Gral, der mythische Abendsmahlskelch, im ersten Abendmahl Jesu benutzt, senkt sich aus himmlischer Höhe dort zur Erde, wo Menschen diese Erscheinung verdienen. Erscheinung adelt. Ein Ritualschwert berührt eine junge Frau. Der aus der Spitze des Schwertes aufleuchtende Blitz demonstriert die Berührung von Himmel und Erde und zeugt in der Frau - scheinbar ohne Mitwirkung eines Mannes - das göttliche Kind. Di Mambro war ein ausgezeichneter Regisseur mit Sinn für perfekte, pseudomystische Inszenierung.
Das Opfer und der Hunger nach Transzendenz
Diese Inszenierungen konnten grundsätzlich kritische, intelligente Menschen nur über Jahre hinaus täuschen, weil der Hunger nach Transzendenz auch im modernen Menschen nagt, viel hemmungsloser als es sich aufgeklärte Zeitgenossen eingestehen. Der Mensch ist seit den frühesten Spuren menschlicher Kultur und Religiosität auf dieser Erde, um sich irgendwie und irgendwo mit dem Himmel zu verbinden. Er lebt vergänglich, um irgendwie und irgendwo Ewiges zu erleben. Wie und wo erleben Menschen Himmel und Ewigkeit? Das Opfer ist seit Urzeiten der Ort, wo sich für das Empfinden des Menschen Himmel und Erde berühren. Das Opfer schliesst verschlossene Himmelspforten auf. Die im Sonnentempelbetrieb tagelang mühsam rackernden und halbe Vermögen opfernden Ordensmitglieder erleben im Kult, wie sich die geheimnisvolle Türe zum Allerheiligsten - durch Jo di Mambro gesteuert - scheinbar selbstständig öffnet. Der Himmel begrüsst die Erde. Das Opfer wird angenommen. Wahrscheinlich - so vermutet die Opferlogik - öffnen sich Himmelspforten immer nur, um demütig offerierte Geschenke entgegenzunehmen. Nur der beschenkte Himmel schenkt. Aber wenn ich bedingungslos opfere, dann stehe ich unter offenem Himmel.
Das letzte Opfer
Dann erlebe ich Transzendenz. Opferübungen, vor allem mühsame Arbeit und spirituelles Werk, neigen dazu, das Bewusstsein des sich Aufopfernden zu verändern. Es wundert mich nicht, wenn der radikal sich Aufopfernde nicht nur die durch elektrische Signale geöffneten Türen im Sonnentempel als wunderbare Selbsterschliessung der geistigen Sphäre versteht, sondern wenn ihm auch persönliche Visionen zuteil werden. Wer bedingungslos opfert, steht vor der offenen Himmelstür. Diese Erfahrung, in der Opfermystik aller Zeiten präsent, verbirgt sich - Aufklärung hin, Aufklärung her - als Möglichkeit auch in der Seelenlandschaft der Gegenwart. Im letzten Akt des Sonntemplerdramas - so scheint mir - wird das Verborgene augenfällig. Wer bedingungslos opfert, tritt durch die Himmelstür. Der mystische Tod führt zum Sirius. Das letzte Opfer erschliesst das reinste Licht.
Technik im Dienst der Mystik
Warum muss Jo di Mambro technische Tricks anwenden? Genügen die entsagungsvolle Arbeit, der sich aufopfernde Dienst, die intensiven Meditationszeiten und ähnnliche Übungen nicht, um dem transzendenzhungrigen Menschen Visionen zu schenken? Die visionären Talente des Menschen kamen in Veruf. Die moderne Welt kultiviert den technischen Verstand, den Sinn für Effizienz und die Liebe zur linearen Erklärung. Machbarkeit, Effizienz und lineare Plausibilität sind aber dem visionären Erleben fremd. Die moderne Zivilisation der Machbarkeit konnte und kann den Hunger nach Transzendenz nicht ausrotten. Aber sie kann jedes Mittel beargwöhnen, das diesen Hunger befriedigt. Der Hunger nach Transzendenz ist zwar noch da, aber ich darf ihn als kritisch denkender Mensch kaum mehr befriedigen. Es werden mir auch bei grösstem Transzendenzhunger spontan keine Visionen mehr geschenkt. Die Seele des modernen Menschen hat verlernt, zu visionieren. Der ungeübten Seele hilft nun die Technik nach. Denn lieber Zirkusmystik als diese schreckliche völlige Abwesenheit von Transzendenz. Lieber ein zweifelhaftes Medium als ein Menschsein fensterlos eingemauert in die harte, kahle Realität.

Technisch inszenierte Transzendenz zerbricht die Mauern, die jener Verstand zwischen Himmel und Erde aufgebaut hat, der andauernd normiert, bevor er erkennt, und der zuletzt immer nur zurechtgestutzte Wirklichkeit ausmisst.

Ist die Mauer einmal eingerissen, so stellen sich wieder viele Begegnungen zwischen Himmel und Erde ein. Aber zuerst muss die Mauer fallen. Technik schafft den Durchbruch. Die Zirkusmystik geht voran und bahnt den Weg. Die transzendenzhungrigen Seelen folgen verwundert, begeistert, entzückt.

Mundus vult decipi
Thierry Huguenin bliebt vorerst sogar dort noch Mitglied des Ordens, wo ihm das Ritualschwert mit seinen elektrotechnischen Installationen in die Hand fällt. Di Mambro kann nicht ein Betrüger sein, sagt sich das jahrelang zu jedem Opfer bereite Mitglied. Der Betrug liegt vor Augen. Aber die eigene Seele kann und will ihn nicht wahrhaben. Wo ich mich jahrelang aufgeopfert habe und wo ich endlich dank meiner Opferbereitschaft Transzendenz erlebt habe, da können doch nicht Betrüger am Werk sein. Das muss doch die heiligste Sache der Welt sein. "Mundus vult decipi", "die Welt will betrogen werden", sagt eine alte Redewendung. In der engen Alltagsrealität wird jede Transzendenzerfahrung so befreiend, dass sogar der Betrug nicht als Betrug erkannt werden kann. Die beengte, eingemauerte Seele sucht ihren Ausbruch in geistige Sphären um jeden Preis. Der Transzendenzhunger zwingt den eigenen Verstand, objektive Tatbestände umzudeuten oder zu leugnen, wenn nur die Illusion eines Durchbruchs in andere Wirklichkeiten erhalten bleibt.
Masslose und christliche Opfer
Wer opfern will, seine Freizeit, einen Teil seines Lebens oder gar seine ganze Person, der stösst auf viele Opfergelegenheiten. Durchaus vernünftige Varianten finden sich auch im Angebot. Thierry Huguenin setzte sich, bevor er zum Sonnentempel fand, in seinem jugendlichen Idealismus für anerkannte soziale Organisationen ein. Wie kommt es, dass junge und ältere Idealisten trotz aller sinnvollen Opfergelegenheiten dann trotzdem denkbar unsinnige, vielleicht sogar wahnsinnige Opferwege einschlagen und die besten Jahre ihres Lebens einem Jo di Mambro opfern?

Dem im Urteil der Öffentlichkeit sinnvolleren Opfer fehlt die letzte Radikalität des wahnhaften Opfers. Die Opferlogik in ihrer reinsten Form sagt mir, dass ich dort meinen höchsten und wahren Wert entdecke, wo ich bereit bin, mich bedingungslos hinzugeben. Wenn ich etwas finde, wofür ich leben und sterben kann, dann bin ich geweiht. Dann habe ich zu meiner eigentlichen Bedeutung gefunden. In dieser Radikalität sprechen nur noch sektenhafte Gruppierungen und Bewegungen opferwillige Menschen an. Die Kirchen und anerkannten Sozialwerke offerieren dem Idealisten Opfervarianten mit Schadenbegrenzung. Bei allem meinem Einsatz soll und darf ich selber nicht zugrunde gehen oder doch nicht meinen Untergang suchen. Im biblischen Glauben ist diese Mässigung in der Opferpraxis vorgezeichnet. Gott will nicht, dass Abraham seinen Sohn opfert. Ein Tier genügt (l.Mos. 22). Das Opfer Jesu erübrigt alle weiteren übrigen Sühneopfer (Hebr.10). Hier trennen sich die Wege. Alle Sonnentempel rufen zuletzt ins Sühneopfer. Menschen geben alles hin, damit sie endlich irgendwo ihren eigenen Wert erspüren. Sekten fordern masslose Opfer. Denn Unermessliches - die ewige Bestimmung des Menschen - gilt es zu gewinnen. Dem im biblischen Glauben geborgenen Menschen ist das Unermessliche schon geschenkt. Er muss es durch kein Opfer erreichen. Er opfert sich, wenn es die Not der Stunde erreicht. Aber er opfert sich nicht, um zu erleben, wie der Himmel sich über ihm öffnet.

Opferinstinkt?
Die für alle Aussenstehenden beängstigende, masslose Opferbereitschaft der sog. Sektenmitglieder lässt eine Vermutung aufkommen, die - wenn sie zutrifft - mehr als jeder andere Hinweis scheinbar Unbegreifliches verstehbar macht: Vielleicht verbirgt sich in den archaischen, in vorgeschichtlicher Zeit erworbenen Dimensionen des menschlichen Geistes ein Mechanismus, wonach äusserste Gefahr für die Gruppe unmittelbar mit radikaler Opferbereitschaft des Einzelnen beantwortet wird. Dieser Mechanismus mag einmal für das Überleben der Gruppe grundlegende Bedeutung gehabt haben. In der Gefahr weiss der Einzelne, dass das Überleben der Gruppe weit mehr gilt als seine eigene Existenz. Wenn in den archaischen Dimensionen unserer Psyche dieser Mechanismus immer noch als Möglichkeit weitergegeben wird, dann muss nur eine Gruppe oder ein Meister Menschen in vermeintliche oder wirkliche äussere Gefahr führen, und schon sind vorher scheinbar kritische oder angeblich souveräne Individuen bereit, alles für die Gruppe zu opfern, auch ihr eigenes Leben.
Weltuntergangsszenarien und bedingungslose Hörigkeit
Die sog. Sekten spielen unbewusst oder bewusst mit diesem archaischen Mechanismus. Nicht nur die Situation des einzelnen Menschen wäre, hätte er die rettende Sektenwahrheit nicht gefunden, völlig hoffnungslos. Die Situation der Welt ist dramatisch. Das Ende und der Untergang steht vor der Tür. Und die eigene Gruppe wird ständig von Feinden umlauert. Die Sekte wird zum Sonnentempel in einer abgrundtiefen Nacht. Und die Nacht ist nicht untätig. Sie will die Flamme des göttlichen Lichtes ausblasen. Die ausgeprägte Sekte wird von allen Seiten von dämonischen Mächten bedrängt. Mit anderen Worten: Der archaische Mechanismus wird reaktiviert. Endzeitängste lassen sich - angesichts der gegenwärtigen Situation der menschlichen Zivilisation - nicht einfach von der Hand weisen. Aber die Sekte missbraucht die Ängste für ihre Zwecke. Sie führt in apokalyptische Szenarien und reaktiviert in der totalen Bedrohung grenzenlose Opferbereitschaft. Vor der Kulisse der unmittelbar bevorstehenden Apokalypse inszeniert die Sekte ein Drama radikalster Hörigkeit.
Georg Schmid, 1996
Letzte Aenderung 1996, © gs 1996, Infostelle 2000
zurück zum Seitenanfang