Als ich kurz vor 19 Uhr bei der Reithalle in Winterthur angelangt
bin (1), ist im Hintergrund schon Musik zu
hören. Menschen kommen an, begrüssen einander und plaudern;
es sind etwa 800 Leute, die hier in der Reithalle zusammengekommen
sind. Es herrscht eine lockere und herzliche Stimmung. Auf einem
Tisch werden Bücher angeboten und es wird heisser Punsch
ausgeschenkt. Die Ambiance der Reithalle ist rustikal, die Besucher
sitzen auf Festbänken, vereinzelt sind farbige Lampen und
einzelne Scheinwerfer zu sehen. Mit Musik und Gesang beginnt nun der
Gottesdienst, vereinzelt sind erhobene Hände zu sehen. Der
Heilige Geist wird eingeladen, den Raum zu füllen, dazwischen
informiert David Schneider (Mitglied des Teams), dass in der letzten
Kollekte CHF 13'500.- (!) zusammengekommen sind.
Es folgt ein "Israel-Gebet", in welchem die aktuellen Ereignisse im
Nahen Osten aufgenommen werden. Es wird darum gebeten, dass die
"Mächte der Finsternis" zurückgebunden werden und die
Menschen den einzig wahren Gott erkennen. (Meine Vermutung, dass
darunter ausschliessend und ausschliesslich der christliche Gott
gemeint ist, hat sich im Verlauf des Abends bestätigt.) Die
Anbetungslieder, die nun gesungen werden, haben einen einfachen und
eingängigen (in meinem Urteil banalen) Text, meist nur wenig
Strophen, die dafür mehrmals wiederholt werden. Mir kommt das
vor wie ein Werbeslogan, der sich durch stetes Wiederholen im
Bewusstsein der Menschen festsetzen will. Auch die Melodie der Lieder
ist einfach, was das Mitsingen erleichtert, zu welchem auch die gute
Bandbegleitung einlädt.
Die Abwechslung von ruhigen und aufbauschenden Liedern wie etwa "Der
Sieg gehört unserm Gott", dessen Kriegsmetaphorik mich nicht
gerade christlich dünkt, hat inzwischen die Menschen ergriffen,
derweil andere immer noch heisse Getränke holen. Das Lied "unser
Gott kommt, verzehrendes Feuer geht vor ihm her", ist Anlass für
die Bemerkung, dass Jesus im Himmel und auf Erden alles vorbereitet,
um bald wiederzukommen. Es gelte daher wachsam zu sein.
"Es gibt hier noch welche, die ihr Leben noch nicht Gott
übergeben haben..." diese Unbekehrten werden von der Sprecherin
inständig aufgefordert nach vorne zu kommen, um vor dem Kreuz
niederzuknien. Als zwei Frauen und vier Kinder nach vorne kommen,
meint die Sprecherin: "Es hat noch mehr - auch die von der Empore
sollen kommen, es ist jetzt die Zeit. Ihr wisst die Stunde nicht!"
Als niemand mehr kommt, meint sie, dass diese das nächste Mal
kommen sollen. Die schon Gläubigen werden aufgefordert, in den
nächsten Gottesdienst Menschen, die diesen Schritt nach vorne
noch nicht gemacht haben mitzunehmen, denn "wer noch nie Jesus sein
Leben übergeben hat, wer noch nie vorne war und dies
öffentlich bekannt hat, soll es jetzt tun, um gerettet zu
werden." Es geht nicht nur um einen Entscheid, sondern auch darum,
diesen öffentlich bekannt zu machen. Ja, das Bezeugen vor der
sichtbaren und unsichtbaren Welt ("wenn die Engel dies sehen,
klatschen sie") ist gemäss der Sprecherin wichtig. Zu denen, die
nach vorne gekommen sind, sagt sie: " Ihr gehört jetzt nicht
mehr dem Teufel (!) an, ihr gehört jetzt Gott an." Sie
müssen nun nachbeten, was die Sprecherin vorbetet. Unter anderem
findet sich im Gebet eine Lossagung von aller Sünde und eine
Lossagung vom Teufel. Ob der vorne stehende ca. fünfjährige
Bub all dies intellektuell nachvollziehen kann, wage ich zu
bezweifeln. Als die "Neubekehrten" schliesslich Amen sagten, gibt es
einen tosenden Applaus - zumindest von der Gemeinde.
Seit dem Anfang des Gottesdienstes ist mittlerweile schon mehr als
eine Stunde vergangen. Wiederum wird etwas Aktuelles in den
Gottesdienst aufgenommen. Es ist ja Passionszeit, "die Zeit wo der
Teufel wie ein brüllender Löwe herumgeht und sucht, wen er
verschlingen kann." Als Gegenmassnahme soll die Kraft, Gewalt,
Stärke und Macht des Blutes des Lammes proklamiert werden. Das
Blut des Lammes, das alles Kranke heilt , alles Böse besiegt
etc., wird von der Musikband und der Gemeinde, zum grossen Teil mit
erhobenen Händen, lauthals gepriesen. Ich frage mich, ob hier
nicht diesem Blut eine magische Eigenmächtigkeit zugesprochen
wird. Anschliessend an die Proklamation wird festgestellt, dass die
Kräfte der Finsternis in diesem Raum nun gebrochen seien.
Der Reithalle-Gottesdienst ist ein Gottesdienst von "privaten
Veranstaltern", so gibt es wie beim Privatfernsehen eine
Werbeunterbrechung. Eine Frau macht Werbung für eine CD mit
Anbetungsliedern (auf der Gott den Geist eingefangen habe) sowie
für ein Buch mit Gebeten, die sich als "intelligente Bomben
gegen den Teufel" einsetzen liessen. Weiter geht der Gottesdienst mit
Zeugnissen. Ein paar Frauen und Männer erzählen von ihren
(positiven) Erlebnissen mit Gott und wollen damit die Gemeinde
ermutigen. Diese Zeugnisse werden jeweils mit Applaus quittiert.
Endlich kommt die Predigt. Pfarrer Geri Keller spricht über die
Bedeutung von Offenbarung 12, soweit diese ihm offenbart ist: Der
Teufel, Satan, ist jetzt auf der Erde als Fürst dieser Welt. Wir
stehen in einem Kampf. Der Teufel wird alles daran setzen, uns zu
entmutigen. "Was wir jetzt in Israel und mit BSE und Maul- und
Klauenseuche (MKS) erleben sind Geburtswehen dessen, was kommt. Da
muss ein König geboren werden. Ein neuer Messias, nicht mehr der
schwache und verachtete Zimmermann, der ans Kreuz ging, sondern ein
Löwe und Herrscher." Auch die Christen sollen mit dem Schwert
(Bibel) gegen den Drachen (Teufel) kämpfen. Zur Stärkung
brauchen sie ein Ort, wo sie ganz mit Gott sein können. Mehr von
der Offenbarung kann uns Geri leider nicht offenbaren, weil ihm
"nicht mehr offenbart" wurde.
Zum Schluss des Gottesdienst proklamieren Pfarrer Keller und die ganze Gemeinde das Ende von BSE und MKS. "Im Namen Jesu Christi gebieten wir diesen Seuchen Einhalt." Geri bittet Gott um ganze Armeen von Betern, die gegen diese Seuche eintreten. Jetzt holt niemand mehr heissen Punsch. Jetzt sind alle aufgestanden und sie unterstützen die Proklamation, indem sie halblaut Worte murmeln wie: "Ja Herr Jesus", "In deinem Namen Jesus". Das ganze macht auf mich den Eindruck einer Beschwörung mit der etwas weggezaubert werden will. In einer so grossen Masse hat eine so beschwörendes Murmeln auch fast etwas Unheimliches an sich. Mit der Proklamation ist der Gottesdienst zu Ende (es ist auch schon 22 Uhr). Wer noch ein Anliegen hat, darf noch nach vorne kommen zum Gebet. Ich hingegen gehe nach draussen und brauche erst mal ein bisschen Luft.
Liegt die Anziehungskraft des Reithalle-Gottesdienstes am Sound und den eingängigen Liedern? Mich haben die sich wiederholenden "banalen" Lied-Texte eher gelangweilt. Gemäß Aussage von Geri Keller will man mit plakativen einfachen Liedern bewusst auch Leute von der Strasse ansprechen. Ob die sich unter dogmatischen Begriffen wie "das Blut des Lammes" etwas vorstellen können, ist aber eine andere Frage. Bedeutsam ist die Beobachtung, dass der Teufel sowie Mächte der Finsternis für den Glauben dieser Menschen eine grosse Rolle spielen. (Das Wort "Teufel" kam im Gottesdienst fast ebenso häufig vor wie das Wort "Gott".) Damit verbunden ist ein Schwarz-Weiss-Denken, das leicht einmal zu Intoleranz führen kann, wozu auch die teilweise militante Sprache ihren Beitrag leistet. Wer hinter allem, was als böse bzw. widerwärtig erfahren wird, den Teufel vermutet, den man bekämpfen muss, schottet sich gerne auch von wohlwollender Kritik ab und ist oft wenig bereit auf andere Sichtweisen einzugehen. Aus theologischer Sicht muss das Ausblenden aller kreuzestheologischen Aussagen moniert werden. Gott (und damit auch der Mensch als sein Ebenbild) wird nur als starker und mächtiger Herrscher gesehen (Theologia gloriae). Dass auch Ohnmacht und Schwäche Züge Gottes sein können, wie es sich beim verachteten Zimmermann Jesus zeigt, wird dagegen explizit abgelehnt. Ob ein solches Überbetonen einer Theologia gloriae zusammen mit den immer nur positiven Zeugnissen von Erlebnissen mit Gott und der ständigen Bereitschaft gegen das Böse zu kämpfen bei einzelnen Menschen nicht zu einem gewissen Leistungsdruck führen kann, muss zumindest gefragt werden.
1. Reithalle Gottesdienst der Stiftung Schleife vom 1.4.2001
Christian Metzenthin, 2001
zur Uebersicht Stiftung Schleife
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