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  Thich Nhat Hanh
  Uebersicht
  Die Liebesgeschichte des Meisters Thich Nhat Hanh
Wie finde ich ins Pflaumendorf?
Ich hatte mir vorgestellt, ich würde die Pflaumendörfler auch bei Dunkelheit ohne Not finden. Denn Frankreich ist das Land der sauberen, beinah perfekten Strassensignalisation. Spirituelle Zentren, das wusste ich von meinen verschiedenen Besuchen in Taizé, fügen sich nahtlos in diese fast perfekte Strassensignalisation. Also durfte ich beim Pflaumendorf ähnliches erwarten. Aber schon diese ersten Erwartungen wurden gründlich durchkreuzt. Trotz einer aus der Homepage des Pflaumendorfes entliehenen Kartenskizze bin ich nach Einbruch der Dunkelheit eine Stunde lang kreuz und quer durch die Weiler in den Weinbergen und Hügeln südwestlich von Bergerac geirrt, bis ich auf die fast unscheinbaren Hinweistafeln des Pflaumendorfes stiess. Und als ich endlich ankam, stiess ich sofort auf die wunderschönen Anschriften: Ich bin angekommen. Ich bin zu Hause. Aber ich war noch nicht angekommen. Ich war im Pflaumendorf der Nonnen, der Frauen und der Paare. Männer gehören zu den Mönchen ins Upper Hamlet. Sie wohnen und meditieren von den Frauen getrennt.
Den Regen in Eimern einsammeln?
Freundlichst in der Männerwelt des oberen Pflaumendorfes willkommen geheissen, schaue ich mich im immer noch geöffneten Buchladen um und kaufe mir dieses und jenes Buch aus dem grossen Stoss von Titeln, die der Meister - "Thay", "Meister" nennen ihn die Pflaumendörfler - bisher publizierte oder durch seine Mitarbeiter publizieren liess. (Die erstaunliche Buchproduktion des Meisters erklärt sich wahrscheinlich zum Teil dadurch, dass Mitarbeiter Ansprachen des Meisters zusammenfassen und in Buchform giessen.) In meiner kleinen Kombüse gleich hinter der Küche und hinter dem gedrungenen Speisesaal fange ich an, mich in die Bücher des Meister zu versenken.
Erst in den nächsten Tagen erfahre ich in den zwischen den Zeiten des Schweigens sich ergebenden Gesprächen, dass die meisten Pflaumendörfler überhaupt nicht lesen, auch nicht die gedruckten Reden des Meisters. Sie hören dem Meister zu und öffnen sich dem Augenblick. Sie nehmen, wie der Meister es ihnen in einem Bild vor Augen hält, diese Reden in sich auf wie die Erde einen Regenguss im Sommer, nach Erkenntnis dürstend und krtiklos den Meisterworten zugewandt. Wer liest und reflektiert, erfahre ich später, gleicht dem Menschen, der den Sommerregen in kleinen Kesseln aufzufangen sucht. Er argumentiert nur, er sammelt neue Begriffe. Aber er ändert sich nicht. Diese Vorsicht gegenüber aller argumentierenden Lektüre lerne ich aber erst in den nächsten Tagen kennen. Vorläufig lese ich noch unbeschwert und unbelastet in der neuerstandenen Literatur.
Die erste Liebe als Erleuchtungsweg
Vor allem ein kleines Werk packt mich schon nach der Lektüre der ersten Seiten und beschäftigt mich weit über meine erste Nacht im Pflaumendorf hinaus. Der Meister spricht in seinen Lehrreden im Sommer 1992 jeweils während einer Stunde über die wesentlichsten Sutren des Mahayana und während der nächstfolgenden zweiten Stunde über seine erste Liebe. Grundidee ist die in den Mahayana-Texten oft erstrebte oder erreichte Einsicht, dass sich auf dem Weg der Erleuchtung alles mit allem verbindet, dass die historische und die absolute Ebene der Wirklichkeit sich gegenseitig spiegeln. Der Weg des frühen Mahayana ist der Weg der Liebe schlechthin, und in der ersten Liebe begegnen sich weit mehr als nur ein Ich und ein Du. Deshalb kann der Meister programmatisch ausmachen: "Ich sehe keinen Unterschied zwischen dem Schalgen-Sutra, dem Diamant-Sutra und dieser Liebesgeschichte. Wenn ihr diese Liebesgeschichte hört, kann euch das helfen, das Dharma (die Lehre) zu verstehen, und wenn ihr das Dharma versteht, wird euch das helfen, diese Liebesgeschichte zu verstehen." (1) Diese an sich geniale Anlage des Büchleins - die erste Liebe ist als höchste Liebe präsent im eigenen Erleben - hält der Meister bis gut in die Mitte seines Büchleins durch. Liebesgeschichte und Mahayana-Mystik erklären sich gegenseitig. Im letzten Teil des Büchleins verschwindet die geliebte Nonne völlig aus dem Gesichtsfeld des Meisters. Die zumeist von fern geliebte Nonne ist in ihrer Einsamkeit aus dem Orden ausgetreten. Die letzten Briefe des Meisters haben sie nie erreicht. Der Meister preist die unentbehrliche Kraft der Sangha, der Mönchsgemeinde, für den einzelnen und erwähnt die Geliebte auf den folgenden Seiten nicht mehr. Der letzte Weg führt nur noch durch die grenzenlos weiten und fast durchsichtig luftigen Räume der Mahayana-Mystik (2).

Bloss mit kritisch-westlichen Augen betrachtet beschreibt der Meister eine Liebe, die sich nie entfalten konnte oder wollte. Beide sich Liebenden können sich ihre Liebe kaum eingestehen. Nach den Worten des Meisters zu schliessen, war es für den überzeugten Mönch und die überzeugte Nonne auch völlig unvorstellbar, ihren Neigungen nachzugeben. In kurzen Momenten des Schwankens ruft die innere Stimme zurück auf den mönchischen Weg. Nach westlichem Ermessen wird die Liebe der beiden nie gelebt, nach dem Empfinden des Meisters wird die Liebe zwischen zwei Menschen verwandelt in eine Liebe zu zahllosen Menschen und in die Liebe zur absoluten Wirklichkeit schlechthin. Dabei empfindet der Meister diese Transformation seiner ersten Liebe in keiner Weise als Verlust, im Gegenteil. Im Ganzen ist alles Einzelne präsent. "Die Geschichte hat sich vor fünfundvierzig Jahren zugetragen, aber wenn du sie (die Geliebte, gs) mit den Augen des Diamant-Sutra betrachtest, so weist du, dass du sie ... hier und jetzt berühren kannst. Wenn du ... eine Blume berührst, dann berührst du die Sonne und den ganzen Kosmos!" (3)

Transformierte Liebe
In den nächsten Tagen erlebe ich diese Geschichte einer nie gelebten, aber transformierten Liebe wie einen Schlüssel zu allem, was mir im Pflaumendorf begegnet. Ich begegne unter den Pflaumendörflern Menschen, gezeichnet durch manche enttäuschte Liebe und umgetrieben von manchem belastenden inneren Kampf: ein Deutscher, der seinen Frieden als Hirte auf Schweizer Alpen suchte, ein holländischer Psychiater auf der Suche nach seiner eigenen Mitte, eine Lehrerin, die alles aufgab, und die nun beinah als Nonne unter Nonnen lebt, ein israelischer Informatikingenieur, der im Pflaumendorf inneren Frieden findet, ein junger Süfafrikaner, der völlig hingegeben dem Meisterwort lauscht, eine Frau in den mittleren Jahren, in einer Lebenskrise zur Pilgerschaft nach Santiago de Compostela aufgebrochen. Als sie unterwegs das Pflaumendorf besuchte, kam sie nicht mehr weiter. Das Pflaumendorf ist ein Übungsdorf für Achtsamkeit und Transformation. Achtsamkeit verwandelt alles. Achtsamkeit - höre ich den Meister am Sonntagmorgen sagen - gleicht den Sonnenstrahlen, die die Tulpenknospen durchdringt und die Blütenblätter dazu bringt, sich zu entfalten. Achtsamkeit - nicht nur als kurze Meditationsübung, sondern als Lebensstil - weckt und entfaltet in uns den Buddha, den Christus, die wahre Liebe; unsere beste Achtsamkeit verwandelt unsere Erwartungen, unsere Enttäuschungen, unsere Wünsche, unsere Gefühle. Achtsamkeit verwandelt auch unsere Liebe, unsere Wut, unseren Hass, unsere Angst. Und was wird aus uns, wenn wir uns im Licht der Achtsamkeit verwandelt haben? Wir werden freundlich, glücklich, einfühlsam, behutsam, zärtlich. Zartheit im Umgang mit sich und allen Wesen ist, so will mir scheinen, das bestechendste Merkmal der durch Achtsamkeit verwandelten Menschen. Eine unwahrscheinlich friedliche, nette, freundliche Atmosphäre empfängt den Gast im Pflaumendorf. Alle lächeln, oder genauer: alle halblächeln. Das "Halblächeln" des Buddha in der Meditationshalle und vor dem Lotusteich gilt als schönster Ausdruck glücklicher Präsenz. In dieses Halblächeln der Gemeinschaft fällt, soweit ich hörte, kein böses Wort und kein harscher Ton, keine unwillige Frage und kein lauter Protest. Nur Mambu, der kleine drollige Hund, bellt - wenn er sich mit einem Kollegen rauft - so wild drauf los, wie wenn er selbst keinen Buddha in sich trüge. Das Halblächeln prägt den ganzen Alltag so perfekt, dass ich mich als Neuling sofort frage, wohin denn diese Gemeinschaft ihre Schatten und ihre schwierigen Gefühle verdrängt.
Belehrung ohne Dialog
Eine Antwort auf meine Frage ergibt sich am Samstagvormittag. Wir sind zur Fragestunde in den Meditationsraum geladen. Drei Mönche sitzen gut zwanzig Gästen gegenüber und beantworten alle Fragen, eingebunden in ein genau vorgelegtes Ritual. Nach jeder Antwort des Mönchs begrüssen sich Mönche und Zuhörer durch Verneigung, die Klangschale wird angeschlagen als Zeichen dafür, dass es zur gestellten Frage im Moment nichts mehr zu diskutieren gilt. Ein eigentlicher Dialog als gemeinsames Suchen nach besserer Erkenntnis oder gar eine Debatte als Ringen um bessere Einsicht ist unter diesen Vorzeichen ausgeschlossen. Wir Laien fragen, die Mönche antworten. Wir bedanken uns schweigend. Selbstverständlich entspricht dieses Frage- und Antwort-Ritual östlicher Lehrtechnik. Der Dialog ist - soweit ich sehe - eine Errungenschaft der griechischen Philosophie. In der buddhistischen und hinduistischen Kultur ist dieses Kind westlicher Wahrheitssuche höchstens als Stiefkind zu Gast. Trotzdem - ich sitze mitten in Europa und erlebe einmal mehr, wie gebildete Europärer und Amerikaner aus dem Munde östlicher Weisheitslehrer kommentarlos und ohne Rückfrage in der Atmosphäre asiatischer Höflichkeit und mystischen Tiefsinns Erkenntnisse entgegennehmen, die sie aus einem anderen Munde und bei klarem Lichte besehen als unverdauten Stumpfsinn weit von sich weisen würden.
Vom Umgang mit sexuellen Turbulenzen
Besonders deutlich fällt mir dieses Missverhältnis von wohlwollender Aufnahmebereitschaft und zweifelhafter Belehrung bei der Beantwortung der Frage auf, die ein Gast den Mönchen vorlegt und die anschliessend zu einer Antwort führt, die vom Gast mehr als eine Stunde geduldigen Zuhörens verlangt. Die Frage lautet: Was mache ich, wenn sexuelle Vorstellungen oder Wünsche meine Meditation stören? Der eine Mönch empfiehlt kalte Duschen. Der andere erklärt, zu wenig echte Selbstliebe sei der Grund des Übels und empfiehlt eine meditative Selbstumarmungsübung als Abhilfe. Der dritte schildert mit angstbesetzten Augen seine Begegnungen mit einem 75jährigen Skandinavier, der immer noch - man beachte sein Alter! - sein ganzes Haus mit pornographischen Darstellungen tapeziert hatte. Aller langen Reden kurzer Sinn: Sexuelle Wünsche sind ein Fass ohne Boden. Wenn du dich darauf einlässt, wirst du vielleicht auch ein sexverrückter Greis. Ganz allerdings sollten wir als Laien auf Sex nicht verzichten, sagt uns zum Abschluss der Mönch, der sich gerne kalt duscht. Es gälte doch immerhin noch dafür zu sorgen, dass eine nächste Generation Menschen heranwächst.

Ich ärgerte mich über diese lange und für mein Empfinden penible Veranstaltung. Ich ärgerte mich aber nicht über die Mönche, sondern über ihr westliches Publikum. Wenn ich von Mönchen Beratung in sexuellen Fragen suche, darf ich mich nicht wundern, wenn die Antworten ungefähr der skizzierten Linie folgen. Ich frage schliesslich auch keinen Vegetarier nach Bratenrezepten. Aber ich ärgerte mich über uns Gäste, über uns aufgeklärte, gebildete, kritisch denkende, weltoffene, sexuell in keiner Weise verklemmte Westler. Bei jeder Erklärung des Papstes mit ähnlicher Stossrichtung schreien wir auf. Aber hier hören wir uns während mehr als einer Stunde jeden Einfall verdrängter Sexualität an, wie wenn es der Weisheit letzter Schluss wäre. Zum Schluss, nach dreimaligen Verbeugungen allerseits, lassen wir die Mönche im Gefühl aus der Medtiationshalle treten, sie hätten einer verwirrten und verirrten westlichen Welt endlich wieder einmal das beigebracht, was sie am meisten brauche. Im ritualisierten Frage-Antwort-Spiel endet die Belehrung, mindestens was die aufgeworfene Frage betrifft, im perfekten Selbstbetrug. Zum Glück - dies sei hier nachgetragen - stosse ich später in den Schriften des Meisters noch auf einen völlig anderen Stil in der Beantwortung der hier so hilflos behandelten Frage (4).

Was die Transformation der sinnlichen Liebe in die kosmische betrifft, so hat der Meister in seinem Buch über die erste Liebe diesen Weg für mein Empfinden überzeugend nachgezeichnet. Für die ebenso wortreichen wie hilflosen Mönche, die Hilfe in sexuellen Nöten anbieten wollten, scheint diese Transformation noch ein reiner Wunsch zu sein. Sie verwandeln ihre Sinnlichkeit - wie mir scheint - noch nicht in umfassende Liebe, sondern vorläufig noch in wortreiche, sexualfeindliche Moral.

Wut und Trauer - achtsam verwandelt
Eine zweite Antwort auf meine Frage nach dem Umgang mit unpassenden Wünschen und Empfindungen erschliesst sich mir in der dreieinhalb Stunden dauernden Ansprache des Meisters in der grossen Meditationshalle am Sonntagvormittag. Nhat Hanh wirkt auf mich so zart und fragil - er fühlt sich selbst nach eigenen Angaben manchmal auch "traurig und ein wenig zerbrechlich" (5) -, dass mich sein Gesicht sofort an eine verstorbene Tante erinnert, die auch ein Leben des Verzichts durchlebt und durchlitten hat und der es auch mit Hilfe ihres - christlichen - Glaubens gelungen war, den Verzicht in Zärtlichkeit und Verständnis für andere zu verwandeln. Nicht nur Zärtlichkeit, nicht nur Verständnis, nicht nur Gelassenheit, sondern auch eine grosse Trauer begegnet mir in diesem Gesicht des Meisters. Nath Hanh spricht an diesem Morgen über unseren wenn immer möglich achtsamen Umgang mit unserer Wut. Auch Wut lässt sich durch Achtsamkeitsmeditation verwandeln. Aus ihr wächst Verständnis für andere, Einsicht in die eigenen, verfehlten bisherigen Vorstellungen und Schritte in eine tiefere neue Gemeinschaft. Allerdings - wer Wut meditativ verwandeln will, muss dafür sorgen, dass sie nicht explodiert, sich in Aggressionen entlädt.

In der Mitte der ellenlangen Rede, die dasselbe Thema immer wieder neu variiert, steigt in mir die im Moment absurde, aber vielleicht im Grunde genommen hilfreiche Frage auf: Warum eigentlich explodierst du, lieber Meister, nicht? Warum schreist du nicht, warum tobst du nicht? Warum lässt du all deiner Trauer und deinen Enttäuschungen nicht einfach freien Raum? Und warum liebst du nicht auch, nicht nur metaphysisch und seelisch, sondern auch körperlich? Warum verbietest du dir das alles? Du sagst mir vielleicht, weil du all dies deinen Mitmenschen nicht zumuten möchtest. Bist du sicher, dass all dies eine Zumutung wäre? Vielleicht würden sie aufjubeln, wenn sie deine Wut und deine Trauer spüren könnten und wenn sie nachher dich nicht nur halblächeln, sondern herzhaft lachen sähen? Vielleicht würdest du deinen Mitmenschen das grösste Geschenk machen, wenn du es wagen würdest, einmal wirklich wütend und traurig und dann wirklich glücklich zu sein.

Am Sonntagvormittag war kein Raum, um Fragen zu stellen und Wünsche anzubringen. Ich weiss auch, dass ich - falls es Raum für Fragen gegeben hätte - nie den Mut hätte aufbringen können, in eine vielleicht zweihundertköpfige Versammlung mit derartigen Wünschen zu konfrontieren. Aber vielleicht liest der Meister früher oder später einmal diese Zeilen. (Ich sende ihm jedenfalls eine Kopie dieses Textes ins Pflaumendorf.) Und vielleicht antwortet der Meister sogar und begreift meinen Wunsch. Ich würde gerne seine Antwort diesem Text beifügen. Vorläufig aber meine ich zu erahnen, wohin der Meister selber all seine dunkleren Empfindungen steckt oder alle schwierigeren Gefühle, die nicht in sein Bild des achtsamen und erleuchteten Lebens passen. Er betrachtet sie achtsam und verwandelt sie in Weisheit und Trauer, Weisheit in der Erfahrung, dass die Wellen dunkler Empfindungen nie mehr in sein Bewusstsein überschwappen und Trauer in der uneingestandenen Erkenntnis, dass er mit den ungehörigen Gefühlen auch ein grosses Mass an guter, wilder Lebensenergie verlor.

Buddhismus ohne Selbst
Weisheit kann auch der kritischste Zuhörer dem Meister nicht absprechen, eine Weisheit sogar, die neue Wege zu gehen wagt. Jene Anfrage, die traditionalistischer gesinnte Buddhisten - und unter den Neobuddhisten aus der westlichen Welt findet sich manch enragierter Besserwisser und Neo-Traditionalist - an den sog. engagierten Buddhismus des Thich Nhat Hahn und sein Pflaumendorf richten, beantwortet mir der Meister an diesem Sonntagmorgen sozusagen im Vorbeigehen, ohne ausdrücklich darauf einzugehen. Traditionalisten diagnostizieren bei Nhat Hanh eine derart radikale Vereinfachung, Verwässerung und Vermischung aller buddhistischen Wege und eine derartige Vermischung mit christlichem Sozialethos und westlicher Sozialphilosophie, dass sie bei aller Höflichkeit nicht von einer authentischen Form buddhistischer Tradition sprechen möchten. Der Meister selber - das ist unverkennbar - verbindet gerne alles mit allem. Buddhismus selber hat - wie alles in dieser Welt - kein eigenes Wesen, kein Selbst. Er setzt sich zusammen aus lauter nicht-buddhistischen Elementen. Ähnliches gilt - folgert der Meister - auch vom Christentum (6). Gerade dieses befreiende Wissen um das fehlende Wesen des sog. Buddhismus befähigt Nhat Hanh aber auch, einzelne Elemente genial zu kombinieren. Achtsamkeit als Mitte der buddhistischen Spiritualität entdeckt er im zeitgenössichen Theravada. Anders aber als die Thervadin führt seine Achtsamkeit nicht ins radikale Loslassen und damit ins Anatta, ins Nichtselbst als Jenseits von Person, Gemeinschaft, Welt und Leiden, sondern ins Nicht-Selbst als Ausfallen jedes abgetrennten Wesens. Achtsamkeit führt den Meister und seine Jünger ins Einssein mit allem, in die mystische Schau des Mahayana, in der alle Wesen sich in allen Wesen spiegeln. Dieses Inter-Sein, diese Seinsverbundenheit rückt seine Spiritualität in die nächste Nähe zum Pantheismus des New Age und öffnet alle naturmystisch veranlagten Herzen für die alte und vordem fast weltlose Achtsamkeitsmeditation. Die Erkenntnis, wonach Achtsamkeit alle seelischen Leiden heilt, gewinnt der Meister auch in seiner Nähe zur westlichen Psychotherapie. Das soziale Engagement fliesst ihm - wie schon erwähnt - nicht zuletzt aus seiner Bekanntschaft und Freundschaft mit spirituell und politisch engagierten Christen zu. Aber all dies ist ihm nicht zum Vorwurf zu machen. Die These vom fehlenden Selbst des Buddhismus und des Christentums wäre ehrlich aufgegriffen eine zukunftsträchtige Erkenntnis für beide Religionen. Erleuchtung ist das Wesen des Buddhismus. Erleuchtung aber ist jenseits aller Begriffe. Christus ist das Wesen des sog. Christentums. Christus aber ist Person, nicht Begriff oder Konzept. Kurz - mir gefällt die Kreativität und Beweglichkeit dieses engagierten Buddhismus, und ich erkenne dankbar auch im sog. Christentum alle Ansätze zu einem konzeptfreieren und deshalb weltnaheren und lebendigeren Glauben. Dass die Traditionalisten in beiden Religionen im Geheimen oder offen die Nase rümpfen, spricht nach meinem Empfinden nicht gegen Thich Nhat Hahn. Wo die konzepttreuen Geister aufmucken, ist lebendige Spiritualität nicht fern.
Der Meister - kein Guru?
Schwieriger fällt es mir, die überall spürbare, weitgehend kritiklose Meisterhörigkeit im Pflaumendorf zu verstehen. Vor meinem Abschied unterhalte ich mich mit zwei Gästen noch bewusst über Sektentendenzen. Eine Gesprächspartnerin weist schon den Verdacht auf Indoktrination und Hörigkeit weit von sich. Unser Meister, beschwört sie, ist alles andere als ein Guru. Sieht sie nicht, wie das Auftreten des Meisters, das Begrüssungszeremoniell, die stundenlange Rede, die ehrfurchstvolle Verabschiedung, das einheitliche Lob oder doch das höfliche Schweigen in der Mittagspause sich nahtlos ins Muster einer ausgeprägten Guru-Schüler-Beziehung fügt? Und spürt sie nicht, wie die permanente Bemühung um friedliches Lächeln und Harmonie eine höfliche Kritiklosigkeit der Pflaumendörfler erzwingt? Wer im Pflaumendorf kritische Fragen stellt, durchkreuzt die wiederholte Einladung des Meisters: "Höre intensiv zu, ohne deinen Intellekt zu benutzen." (7) Er wird zuerst vielleicht mit Schweigen überhört. Wenn er auf seiner kritischen Frage beharrt, spürt er, dass er in die Rolle des Enfant terrible rutscht. Ich habe während meiner Tage im Pflaumendorf nur zweimal eine wirklich kritische Frage gestellt.
Ist dies Tropenholz?
Das zweite Mal fragte ich kritisch, als ich - wie gerade erwähnt - am Schluss meines Besuches noch erwägen wollte, wie weit das Pflaumendorf seine eigenen sektenhaften Potenzen kennt. Ich fragte mit dem höflichen Hinweis abgefedert, dass ich keine Spiritualität kenne, die nicht auch ein Sektenpotential in sich trägt. Das erste Mal hatte ich eine kritische Frage nicht unterdrücken können, als wir während der Working Meditation (Arbeit als Meditation) in einer Gruppe von fünf Gästen zusammen mit einem Mönch die neuen Fenster und Türen für den im Bau befindlichen Speisesaal lasierten. (Trotz der für entsprechende Unterkunft und Nahrung für französische Massstäbe nicht unerheblichen Pensionskosten wird vom Gast am Nachmittag noch ein Gratiseinsatz für die Gemeinschaft erwartet.) Weil ich weiss, wie oft in Frankreich bei neuen Fenstern und Türen Tropenhölzer verwendet werden, und weil ich kurz zuvor in einem der Bücher auf die Klage des Ökobuddhisten Thich Nhat Hanh über die Zerstörung der Tropenwälder gestossen war (8), frage ich nach den ersten Pinselstrichen den uns anleitenden Mönch: Woher kommt dieses Holz? Ist dies Tropenholz? Der Mönch überhörte meine Frage. Nach einer Stunde meditativen Streichens - ich strich nach Ansicht des Mönches zu emsig und zu wenig meditativ - brannte mir meine Frage immer noch auf den Lippen. Vielleicht täuschte ich mich. Ich bin kein Experte. Vielleicht war das Holz nur nordische Fichte. (Französische Eiche, das sah ich, war es nicht.) Aber wenn es kein Tropenholz war, dann konnte man mir dies doch sagen oder auf dem Lieferschein nachprüfen. So fragte ich nach einer Stunde ein zweites Mal: "Ehrlich, ich möchte gerne wissen: Ist dies Tropenholz?" Diesmal schweigt die ganze Gruppe - eisig. Jetzt war ich "out". Der Mönch prüfte eines meiner soeben gestrichenen Fenster und begann - auch das war eine Antwort - mein Fenster nochmals zu streichen. Zuerst rebelliert der stolze Hobbyhandwerker in mir und ich empfahl dem Mönch, mit dem zweiten Anstrich doch bis morgen zu warten. Doch wie er wieder nicht reagiert, besann ich mich auf die meditative Bedeutung unserer gemeinsamen Arbeit. Ich atmete tief ein und lächelte. Schliesslich hatte ich inzwischen achtsam einatmen und lächelnd ausatmen gelernt.
Anmerkungen 
1. Thich Nhat Hanh, Aus der Tiefe des Verstehens die Liebe berühren, 1996, 65.
2. Vorgezeichnet ist dieser Weg schon in den kurzen Zeilen des Gedichts des noch intensiv Verliebten:
"So viele Pfade führen in die Heimat.
Alle sprechen schweigend zu mir
Ich rufe das Absolute an." (Aus der Tiefe, 28.)
3. Thich Nhat Hanh, Aus der Tiefe, 123.
4. Thich Nhat Hanh, Lebendiger Buddha, lebendiger Christus, 119ff.
5. Thich Nhat Hanh, Lebendiger Buddha, lebendiger Christus, 70.
6. Thich Nhat Hanh, Lebendiger Buddha, lebendiger Christus, 35.
7. Thich Nhat Hanh, Aus der Tiefe, 107. Vgl. auch die Empfehlung von Natalie Goldberg im Vorwort: "Ich rate euch dringend, die Worte Thays langsam, so wie Sirup im Winter, in euch einfliessen zu lassen." a.a.O. 10; oder Nhat Hanh Aufforderung, den Dharma aufzunehmen, wie die Erde Regen aufsaugt, a.a.O. 11-14.
8. In einer Meditation über die Einheit mit allen Dingen findet sich u. a. auch die Passage: Ich bin der Wald, der gefällt wird. Ich bin die Flüsse und die Luft, die verschmutzt werden, und ich bin derjenige, der den Wald fällt und die Flüsse und die Luft verschmutzt. Ich erkenne mich selbst in allen Wesen und Lebensformen, und ich erkenne sie alle in mir, Thich Nhat Hanh, Der Klang des Bodhibaumes, 1995, 17.
Georg Schmid, 1999
Letzte Aenderung 1999, © gs 1999, Infostelle 2000
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