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Zeugen Jehovas Wachtturm-Gesellschaft |
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Uebersicht |
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Die Vorboten der neuen Welt
Ein Besuch in der Zentrale der Zeugen Jehovas in Brooklyn, New York |
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Auf der Brücke von der alten zur neuen Welt |
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Ich entschloss mich, die Zentren der Zeugen Jehovas in Brooklyn zu
besuchen, als unser Touristenschiff auf den East River einbog. Von
links gleissen die Aluminium- und Glasfassaden der neuen
Wolkenkratzer in der Morgensonne. Vor uns rückt Brooklynbridge,
ein da und dort schon ein wenig rostiges Denkmal alter
Brückenbaukunst langsam näher. Und rechts am Brooklynufer
über neuen, mittelhochen Büro- und Wohnbauten lese ich in
riesigen Lettern: "Watchtower". Wachtturm. Kann ich mir erlauben, so
nahe an der Weltzentrale der Zeugen auf einem Boot vorbeizutuckern,
mit den kurzen, aus dem Lautsprecher dröhnenden fast
nichtssagenden Erläuterungen des Touristenführers als
einzigem Kommentar? Ich muss zu meinem eigenen Kommentar finden
über das, was sich hinter diesem grossen Wachtturmbau verbirgt.
Zwei Tage später suche ich mir selber durch die
Strassenschluchten von Downtown Manhattan den Fussgängereinstieg
zur Brooklynbridge. Einmal auf der Brücke angelangt - Autos
werden hundertmal deutlicher auf die Brücke eingewiesen als
Fussgänger - suche ich langsam den langen Weg von der alten in
die neue Welt nachzuempfinden. Zur alten Welt, die, wenn die Zeugen
recht gehabt hätten, in den letzten hundertdreissig Jahren schon
ein halbes Dutzend Mal sicher untergegangen wäre, gehört
Wallstreet, das Börsenquartier in meinem Rücken. Heute ist
der Himmel bedeckt. Wenn sich keine Sonne in den
Wolkenkratzerfassaden spiegelt, wirken diese dunkelgrauen, schwarzen,
dunkelblauen und weissgrau-gestreiften Türme wirklich wie
Vorboten einer Zeit naher dunkler Ereignisse, wie die ersten Vorboten
des kommenden Harmagedon. (Harmagedon ist in der Deutung der Zeugen
Jehovas die Endzeitkatastrophen, in der alles Widergöttliche
vernichtet wird.) Vor mir, auf dem Brooklyn-Ufer der Brücke
erwarten mich die hellen, freundlichen Bauten der
"Neue-Welt"-Gesellschaft. Hier, wo 3000 Zeugen für Gotteslohn
und für seine Wahrheit in brüderlicher Gemeinschaft
miteinander leben, arbeiten, ist - so meine ich die Zeugen verstehen
zu müssen - ansatzweise schon das verwirklicht, was nach
Harmagedon die Welt erfüllen wird: Ein Leben völlig im
Einklang mit Gottes Willen, eine Welt ohne Grenzen, ohne Staat, ohne
Krieg, und dannzumal auch eine Welt ohne Krankheit und Tod. |
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Bilder der neuen Welt |
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Am Brooklynende der Brücke angelangt, stelle ich fest, dass
mehrere Gebäude sich durch Anschrift als Wachtturm-Zentrum zu
erkennen geben. Ich wende mich zuerst nach links, etwas
landeinwärts, zu vier hellen Industriebauten und einem neuen
riesigen Hochhaus, wahrscheinlich als Wohnbau konzipiert. In diesen
Industriebauten vermute ich die Druckereien der Gesellschaft. Der
Wachturm gilt in seinen fast unüberschaubar zahlreichen
Übersetzungen als eine der auflagenstärksten Zeitschriften
der Welt. Den ebenfalls neuen Büro- und Wohnkomplex gleich am
Meer direkt gegenüber Downtown Manhattan - wahrscheinlich der
Sitz der leitenden Körperschaft, den eigentlichen
"Vatikanspalast" der Zeugen Jehovas, werde ich anschliessend
besuchen. (Die wichtigsten Gremien pflegen auch bei religiösen
Gemeinschaften an der schönsten Wohnlage zu residieren). Beim
Haupteingang der sog. Factory (Druckerei) angelangt, werde ich
freundlichst begrüsst und auf den demnächst beginnenden
Besucherrundgang hingewiesen. Hinter dem grosser Pult des
Empfangschefs begrüssen mich wunderbare Bilder der kommenden,
der neuen Welt. Da ist nichts mehr dunkelblau und schwarz und grau.
In dieser neuen Welt finden sich keine Strassenschluchten und keine
rostenden Brücken mehr. Da blühen zahllose Blumen in Wiesen
und Gärten. Fruchtäume mit Früchten überladen.
(Seit Adam und Eva aus dem Paradies vertrieben wurden, haben Menschen
Ähnliches nie mehr gesehen.) Einzelne Häuser im
Landhausstil in riesigen Parkanlagen beherbergen die Geretteten.
Raubtiere, inzwischen auf Rohkost umgestiegen, spielen mit Kindern.
Und Menschen verschiedenster Hautfarbe und verschiedenster
Lebensalter strahlen einander an. Wahrscheinlich gibt es für die
Erlösten nichts Schöneres als das Zusammensein in
völliger Harmonie mit anderen Erlösten und mit allen
Lebewesen dieser neuen Welt. |
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Vorgezeichnete Wege |
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Die Anweisungen des Besucherdienstes reisst mich harsch aus meinen
Neue-Welt-Träumen. Die vielen wartenden Besucherinnen und
Besucher - zum grössten Teil wahrscheinlich Amerikaner
unterschiedlichster Hautfarbe - werden in einzelne Rundganggruppen
eingeteilt. In unserer Gruppe stellen wir uns gegenseitig vor. Aus
Jamaica, aus dem Süden der USA und aus den mittleren Westen
stammen die meine Gruppenkameraden. Ich bin der einzige
Nichtamerikaner und wahrscheinlich auch der einzige, der nicht zu den
Zeugen Jehovas gehört. Auf dem langen Weg durch die vielen
Druckereisäle sollen wir uns - dies die dringende Empfehlung -
nur zwischen den gelben Markierungen, die überall auf den Boden
gezeichnet sind, bewegen. Das dient der Unfallverhütung und
entspricht vielleicht auch - so vermute ich - der
Zeugen-Jehovas-Mentalität. Der gute Zeuge fühlt sich wohl
auf relativ engen, aber klar vorgezeichneten Pfaden. Dass er im
Unterschied zu den meisten Weltmenschen genau weiss, was erlaubt und
was verboten ist, erlebt er als Erleichterung. Wo andere lange hin
und her erwägen und ihr Gewissen befragen, folgt er dem in
gelben Strichen klar vorgezeichneten Weg. |
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Begeisterung mit Ausnahmen |
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In jeder Abteilung der Factory begrüsst uns eine Person aus
der Arbeitsgruppe in einer Herzlichkeit, wie sie sonst nur unter sich
wohlgesinnten Verwandten üblich ist. Besucher und
Factorymitarbeiter sprechen sich gegenseitig auch als "Bruder" und
"Schwester" an. Weil ich in den immer wieder aufbrechenden
Gesprächen über dies und das diese Anreden nicht gebrauche,
werde ich sofort als Nicht-Zeuge erkannt. Die meisten
Factory-Arbeiter - vornehmlich junge Männer - demonstrieren mit
ihrer Herzlichkeit, dass es für sie nichts Schöneres gebe,
als hier im "Bethel" (so nennen die Zeugen jene Zentren, in denen sie
gemeinsam leben und arbeiten) zu arbeiten. Nur in jener Abteilung der
Buchbinderei, in der junge Leute die bereits schon mit Goldschnitt
verzierten Luxus-Ausgaben der wichtigsten Zeugen-Jehovas-Schriften
auf ihre Tauglichkeit überprüfen, sitzt die ganze Gruppe in
Lehnstühlen und demonstriert unverhüllt ihren Frust. Sie
müssen den ganzen Tag nur neue Goldschnittbände
durchblättern und hoffnungslos verklebte Bände zur weiteren
Bearbeitung zur Seite legen. Bei aller Begeisterung für den
Dienst an der Gemeinschaft, wo junge Leute sich unterfordert wissen,
weicht der Schwung schon nach Tagen dem augenfälligen
Überdruss. |
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Das sog. gemeinsame Bibelstudium |
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Im grossen Speisesaal des Zentrums werden wir auf die
morgendlichen Bibelgespräche hingewiesen. Jeden Morgen vor dem
Essen würden hier die gegen 3000 Bethelmitglieder gemeinsam die
Bibel studieren. Haben die Zeugen Jehovas nun zu offener Diskussion
über Bibelstellen gefunden, nachdem sie bisher nur nachgebetet
haben, was der Präsident oder die leitende Körperschaft
ihnen als sog. biblische Botschaft vorlegten? Echte offene
Bibelgespräche würden mit der Zeit die ganze Organisation
verändern. Aber meine leise Hoffnung kam zu früh. Auf
Nachfrage hin erklärt die Gruppenleiterin, das sog. Bibelstudium
werde via Fernsehkabel und Monitoren vom Bürohaus der leitenden
Körperschaft aus hier in diesen Saal und alle anderen
Speisesäle des Bethel in Brooklyn übertragen. Bibelstudium
ist nach wie vor ein Nachbeten dessen, was an sog. Bibelauslegung von
der leitenden Körperschaft aus vorgebetet wird. |
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Zeugen-Jehovas-Kunst |
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Nach dem Besuch der Factory lasse ich mich im "Office-Building",
dem Sitz der leitenden Körperschaft, nochmals in eine
Besuchergruppe einteilen. Ich werde nun zuerst allerdings über
meine Gründe für diesen Besuch gefragt. Weil ich
erwähne, dass ich religiöse Gemeinschaften studiere und
auch über meine Besuche und über diese Gemeinschaften
schreibe, werde ich nach der zweiten Besichtigungstour ins Büro
für Öffentlichkeitsarbeit gebeten. Vorerst aber studiere
ich zusammen mit älteren Ehepaaren aus dem mittleren Westen
Zeugen-Jehovas-Kunst. Die in einer Art Fotorealismus gemalten
biblischen Szenen werden von den älteren Ehepaaren sofort
wiedererkannt. (Die biblische Szene wurde von Schauspielern
nachgestellt, dann fotografiert. Das Dia dient später als
Vorlage für das nun entstehende Gemälde). Meine Begleitung
weiss sofort, wo und wann welches Gemälde seinerzeit in welcher
Zeugen-Jehovas-Publikation erschienen ist. Gespräche über
den Sinn einzelner Bilder kann ich allerdings nur mit meinen
Gruppenkameraden führen. Der junge, sehr zurückhaltende und
übergewissenhafte Tourleiter liest alle seine Erklärungen
vom Blatt ab und scheut persönliche Kommentare zu irgendwelchen
nicht vorbesprochenen Fragen. |
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Einseitige Geschichtsbetrachtung |
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Der Gang durch den unteren Teil des Office-Buildings wird für
uns auch zu einem besonderen Gang durch die Geschichte der Zeugen.
Diaapparate, welche die Zeugen verwendeten, sich bewegende Bilder
(eine Art Vorform des Kinos), die sie benutzten, als andere noch
keine Medien in ihrer Mission einsetzten, zeigen uns, wie
menschennahe die Zeugen seit gut 100 Jahren ihre Botschaft verbreitet
haben. Eines fehlt allerdings völlig in diesem Rückblick in
die Vergangenheit: Nirgends werden die vielen Daten für das
kommende Ende erwähnt, welche die Zeugen aus biblischen und
anderen Angaben errechnet hatten, welche wahre Erwartungswellen
ausgelöst haben und die im Nachhinein immer umgedeutet werden
mussten. Niemand spricht gerne von seinen grössten
Enttäuschungen. |
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Änderungen in der Blut-Transfusions-Politik? |
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Schwierig wird unser Gespräch, als unsere Besichtigungstour
zu jener Abteilung kommt, die sich mit medizinischen Fragen
beschäftigt und die Ärzten erklärt, wie sie, ohne Blut
oder Blutderivate zu benutzen, den Zeugen und Zeuginnen die
nötige medizinische Unterstützung geben können. Ich
weise darauf hin, dass sich seit kurzem in Sachen Bluttransfusion
doch eine neue Politik anzeige. Die älteren Ehepaare aus dem
mittleren Westen protestieren lautstark, und der Gruppenleiter
pflichtet ihnen bei: "Nein, nein, es bleibt alles wie es war. Keine
Transfusion." Später, in der Abteilung für
Öffentlichkeitsarbeit stelle ich diese Frage noch einmal. Mein
erster Gesprächspartner erklärt mir die Neuerung: Wenn ein
Zeuge oder eine Zeugin in Lebensgefahr einer Bluttransfusion
zugestimmt hat, wurde er oder sie bislang fast automatisch
ausgeschlossen. Heute kann das schuldige Mitglied seine Zustimmung
zur Transfusion bereuen und sich entsprechendem das Fehlverhalten
ausgleichendem Nachunterricht unterziehen. Wenn diese Bedingungen
erfüllt sind, erfolgt kein Ausschluss. Ich meine, dass dies doch
eine deutliche Neuerung gegenüber der früheren
Transfusions-Politik sei. Der Gesprächspartner will mir soeben
zustimmen, als zwei Damen den Raum betreten, offensichtlich seine
Vorgesetzten. Sie lassen sich unser Gespräch wiederholen und
verneinen wie vorher die Ehepaare aus dem mittleren Westen, dass sich
irgendetwas in der Haltung der Zeugen gegenüber der
Bluttransfusion geändert habe. Ich verstehe beide Perspektiven.
De facto hat eine gewisse Aufweichung des alten rigiden Standpunktes
stattgefunden. Aber diese Aufweichung darf und soll nur den direkt
Betroffenen gegenüber angeboten werden. Den alten Mitgliedern
der Zeugen Jehovas gegenüber, die vielleicht schon
Familienangehörige verloren haben, weil sie diese Transfusion
verweigert haben, oder die erlebten, wie Verwandte und Bekannte
rigoros ausgeschlossen worden waren, weil sie einer Transfusion
zugestimmt haben, darf und will man die Aufweichung der alten Regeln
nicht zugestehen. Es wäre doch schrecklich, wenn die alten
Mitglieder heute erfahren müssten, dass die schrecklichen Opfer,
die sie damals auf sich genommen haben, heute so nicht mehr
nötig sind. |
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"Die Wahrheit hilft" |
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Am Schluss unseres Rundganges erwähnt ein Ehepaar, dass dies
für sie ein besonderer Tag sei. Zum einen hätten sie heute
nach vielen Jahren wieder einmal den Bethel in Brooklyn besuchen
können. Und zum anderen sei heute ihr 40. Hochzeitstag. "Und
alle 40 Jahre glücklich?" entwischt es mir, neben dem
Pärchen stehend. "Fast immer", sagt die Frau. "Das ist heute
keine Selbstverständlichkeit", erwäge ich. "Ja wissen Sie.
Für uns war es einfacher als für andere. Die Wahrheit
hilft." - "Die Wahrheit hilft". Diese Worte klingen noch in mir nach,
als ich allein den Weg zur nächsten U-Bahn-Station suche, um
nach Manhattan in die alte Welt der dunkeln Wolkenkratzer
zurückzukehren. Zwei Menschen, durch unzählige
Missionsdienste vor Haustüren und zahllose Bibelbetrachtungen in
den Versammlungen in einem gemeinsamen Dienst für Gott
miteinander verbunden, sind nicht nur eine Schicksalsgemeinschaft,
sondern ein eigentlicher Kampfbund. Sie kämpfen mitten im Dunkel
dieser zerstrittenen Welt für das, was kommt, für die
helle, lichte Welt, die Gott sich für die Gläubigen
ausgedacht hat. Kein Wunder, dass sie beieinander bleiben, auch wenn
die ewige Harmonie auch in den Ehen der Zeugen Jehovas in dieser Welt
noch keine dauernd gegenwärtige Wirklichkeit ist. |
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Georg Schmid, 2000 |
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Letzte Aenderung 2000, © gs 2000, Infostelle 2000 |
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